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Die Markgrafschaft
Nr. 10/1955
Monatszeitschrift des Hebelbundes und des Sdiwarzwaldvereins
7. Jahrgang
Die Ideen, die das Wesen und das Leben eines
Menschen bestimmen, sind in ihm auf geheimnisvolle
Weise gegeben. Wenn er aus der Kindheit
heraustritt, fangen sie an, in ihm zu knospen.
Wenn er von der Jugendbegeisterung für das
Wahre und Gute ergriffen wird, blühen sie und
setzen Frucht an. In der Entwicklung, die wir
nachher durchmachen, handelt es sich eigentlich
nur darum, wieviel von dem, was unser Lebensbaum
in seinem Frühling an Frucht ansetzte, an
ihm bleibt.
Die Überzeugung, daß wir im Leben darum zu
ringen haben, so denkend und so empfindend zu
bleiben, wie wir es in der Jugend waren, hat
mich wie ein treuer Berater auf meinem Wege
begleitet. Instinktiv habe ich mich dagegen gewehrt
, das zu werden, was man gewöhnlich unter
einem „reifen Menschen" versteht.
Der Ausdruck „reif" auf den Menschen angewandt
, war mir und ist mir noch immer etwas
Unheimliches. Ich höre dabei die Worte Verarmung
, Verkümmerung, Abstumpfung , als
Dissonanzen miterklingen. Was wir gewöhnlich
als Reife an einem Menschen zu sehen bekommen
, ist eine resignierte Vernünftigkeit. Einer
erwirbt sie sich nach dem Vorbilde anderer,
indem er Stück um Stück die Gedanken und
Überzeugungen preisgibt, die ihm in seiner Jugend
teuer waren. Er glaubte an den Sieg der
Wahrheit; jetzt nicht mehr. Er glaubte an die
Menschen; jetzt nicht mehr. Er glaubte an das
Gute; jetzt nicht mehr. Er eiferte für Gerechtigkeit
; jetzt nicht mehr. Er vertraute in die Macht
der Gütigkeit und der Friedfertigkeit; jetzt nicht
mehr. Er konnte sich' begeistern; jetzt nicht mehr.
Um besser durch die Fährnisse und Stürme des
Lebens zu schiffen, hat er sein Boot erleichtert.
Er warf Güter aus, die er für entbehrlich
hielt. Aber es war der Mundvorrat und der
Wasservorrat, dessen er sich entledigte. Nun
schifft er leichter dahin, aber als verschmachtender
Mensch.
In meiner Jugend habe ich Unterhaltungen,
von Erwachsenen mitangehört, aus denen mir
eine das Herz beklemmende Wehmut'entgegenwehte
. Sie schauten auf den Idealismus und die
Begeisterungsfähigkeit ihrer Jugend als auf
etwas Kostbares zurück, das man sich hätte festhalten
sollen. Zugleich aber betrachten sie es
als eine Art Naturgesetz, daß man das nicht
könne.
Da bekam ich Angst, auch einmal so wehmütig
auf mich selber zurückschauen zu müssen.
Ich beschloß, mich diesem tragischen Vernünftigwerden
nicht zu unterwerfen. Was ich mir in
fast knabenhaftem Trotze gelobte, habe ich
durchzuführen versucht.
Zu gern gefallen sich die Erwachsenen in dem
traurigen Amt, die Jugend darauf vorzubereiten,
daß sie einmal das meiste von dem, was ihr jetzt
das Herz und den Sinn erhebt, als Illusion ansehen
wird. Die tiefere Lebenserfahrung aber
redet anders zu der Unerfahrenheit. Sie beschwört
die Jugend, die Gedanken, die sie begeistern
, durch das ganze Leben hindurch festzuhalten
. Im Jugendidealismus erschaut der Mensch
die Wahrheit. In ihm besitzt er einen Reichtum,
den er gegen nichts eintauschen soll.
Wir alle müssen darauf vorbereitet sein, daß
das Leben uns den Glauben an das Gute und
Wahre und die Begeisterung dafür nehmen will.
Aber wir brauchen sie ihm nicht preiszugeben.
Daß die Ieale, wenn sie sich mit der Wirklichkeit
auseinandersetzen,* gewöhnlich von den Tatsachen
erdrückt werden, bedeutet nicht, daß sie von
vornherein vor den Tatsachen zu kapitulieren
haben, sondern nur, daß unsere Ideale nicht stark
genug sind. Nicht stark genug sind sie, weil
sie nicht rein und stark und stetig genug in
uns sind.
Die Macht des Ideals ist unberechenbar. Einem
Wassertropfen sieht man keine Macht an. Wenn
er aber in den Felsspalt gelangt und dort zu Eis
wird, sprengt er den Fels; als Dampf treibt er
den Kolben der mächtigen Maschine. Es ist dann
etwas mit ihm vorgegangen, das die Macht, die
in ihm ist, wirksam werden ließ.
So auch mit dem Ideal. Ideale sind Gedanken.
Solange sie nur gedachte Gedanken sind, bleibt
die Macht, die in ihnen ist, unwirksam, auch
wenn sie mit größter Begeisterung und festester
Überzeugung gedacht werden. Wirksam wird
ihre Macht erst, wenn mit ihnen dies vorgeht,
daß das Wesen eines geläuterten Menschen sich
mit ihnen verbindet. Die Reife, zu der wir uns
zu entwickeln haben, ist die, daß wir an uns
arbeiten müssen, immer schlichter, immer wahrhaftiger
, immer lauterer, immer friedfertiger,
immer sanftmütiger, immer gütiger, immer mitleidiger
zu werden. In keine andere Ernüchterung
als in diese haben wir uns zu ergeben. In
ihr härtet sich das weiche Eisen des Jugendidealismus
zu Stahl des unverlierbaren Lebensidealismus
.
Das große Geheimnis ist, als unverbrauchter
Mensch durchs Leben zu gehen. Solches vermag,
wer nicht mit den Menschen und Tatsachen rechnet
, sondern in allen Erlebnissen auf sich selbst
zurückgeworfen wird und den letzten Grund der
Dinge in sich sucht.
*) Albert Schweitzer: „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit
". Biederstein - Verlag, München, 1949.
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