http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1956-04/0013
Die Markgrafschaft 11
■
Badenweiler, von der Ruine aus gesehen (Foto: Harstick, Badenweiler)
Denn siehe da: um die dritte Woche ihres
unbeschwerten Aufenthalts merkte der junge
Mann, daß er in seinem Verlangen, für Ingrid
und sich der Gegenwart alles nur Erreichbare
abzugewinnen, gar zu großzügig verfahren war.
Mit einem Wort: er sah sich am Ende seiner Barmittel
, und zwar in einem Maße, daß auch bei
sofortiger Abreise nach Begleichung der Pensionsrechnung
die Kosten der Heimfahrt schwerlich
noch zu bestreiten waren, selbst wenn man
sich entschieden hätte, äußerste Kargheit walten
zu lassen. Und da in diesem Augenblick Ingrid zu
ihm trat, schmal, hochgebeint, in all dem Bestrickenden
ihrer Jahre, und er ihren hübschen
jungen Kopf neben den Rebblättern der Veranda
vor der fernen, leicht umdunsteten Vogesenkette
unmittelbar vor sich sah, — den Vogesen, die ihm
in dieser Sekunde als der Inbegriff des unsicheren
Grates zwischen Nichtmehr und Nochnicht
erschienen, dem sie beide sich anbefohlen hatten
—, beschloß er, dem Schicksal die Stirn zu
bieten und den Göttern dieses gesegneten Landes
zu vertrauen. Und im Wissen, daß man den Göttern
halbwegs entgegengehen müsse, dachte er
nach.
Anderntags, Ingrid war voraus ins Thermalbad
gegangen, holte er sich sechs Postkarten und
schrieb, in launig-unverhohlenen Worten seine
Lage skizzierend, an sechs Freunde in sechs verschiedenen
deutschen Städten. Er bat jeden der
sechs, ihm einen bestimmten Betrag vorzustrek-
ken, wobei er die Notwendigkeit, eilends zu
handeln, maßvoll unterstrich — in der stillen
Hoffnung, daß wenigstens zwei von ihnen sich
erbarmen würden. Denn das hätte die geplante
vierte Woche der Gemeinschaft mit Ingrid und
eine unbeschwerte Heimreise gewährleistet.
Zwei Tage später indessen geschah dieses:
Die beiden, Ingrid ahnungslos, der junge Mann
mit sorgenschweren Gedanken hinter glatter
Stirn, saßen am Frühstückstisch, neben schwankenden
Oleanderblüten, umweht von Rosenduft.
Um die Schüsselchen mit Tannenhonig und Konfitüre
summten Wespen, bei deren Sichnähern
Ingrid leise aufkreischte. Plötzlich stand der
Postbote vor ihnen, sich die Stirn wischend. Er
hatte, wie sich sogleich ergab, eine telegraphische
Geldanweisung. Der junge Mann ließ sich die
freudige Erleichterung nicht anmerken (denn dies
bedeutete die stilgemäße Heimfahrt). Er nahm
den Betrag mit gutgespielter Lässigkeit entgegen,
schob ihn in die Tasche und gab ein zulängliches
Trinkgeld, unter Ingrids bewundernden und
billigenden Blicken.
Das Frühstück verlief an jenem Morgen noch
heiterer und dehnte sich noch länger aus als
sonst, und gerade als die beiden aufbrechen und
zum Baden gehen wollten, erschien der Postbote
abermals mit einer zweiten telegraphischen Anweisung
, wischte sich die Stirn und schmunzelte,
des Trinkgeldes sicher. Zwei ältere Damen am
Nachbartisch, die bereits Zeuginnen der ersten
Auszahlung gewesen waren, steckten tuschelnd
die Köpfe zusammen. Ingrid schaute in gelindem
Maße verwundert drein und rieb sich das Kinn.
Dem jungen Mann schwoll der Kamm. Jetzt war
die geplante vierte Aufenthaltswoche gesichert!
Nun, die dritte Anweisung kam während des
Mittagessens, unter dem anzüglichen Lächeln und
Geraune der übrigen Gäste. Und nun das Not-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1956-04/0013