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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1956-05/0004
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Die Markgrafschaft

daß erst die Liebe zum Geringsten ein Eindringen in
die höheren Geistesbereiche ermögliche. Denn für das
Auge einer solchen Liebe kann, nach einem Worte Richters
, „jeder Maulwurfshaufen ein Berg Tabor werden,
von welchem man gen Himmel fahren kann.."

In der Tat steckt hinter allen Erscheinungen, die
Hebel besungen hat, eine große allbewegende Kraft. Wo
diese nicht spürbar gewesen wäre, hätte seine Anteilnahme
zum Erliegen kommen müssen. Deswegen wählt
der Dichter die bescheidenen Gegenstände nicht um
ihrer Geringfügigkeit willen oder gar, damit er sich dadurch
seine Aufgabe erleichtere, sondern weil ihm in
ihnen das Walten der Schöpferallmacht besonders deutlich
zu werden vermag. Denn nur dort kann man von
einer alldurchdringenden, weltbewegenden Kraft sprechen
, wo sich diese bis in den winzigsten Punkt, in das
feinstverästelte Faserwerk hinein bemerkbar macht. Und
das ist der Standpunkt eines der großen Zusammenhänge
bewußten, männlich starken Herzens. Nichts
Weichliches, Weibisches birgt sich, bei aller Zartheit und
Innigkeit im einzelnen, im Hebel'schen Gedicht.

Ein Wort noch im Zusammenhang mit den alemannischen
Gedichten, obwohl es ebensogut dem Erzähler
des Rheinländischen Hausfreunds, als der uns Hebel
ebenfalls etwas Unvergleichbares, Einzigartiges bedeutet,
stehen könnte. Nämlich zum „Idylliker" Johann Peter
Hebel. Nur zu oft wird diese Bezeichnung mit der Absicht
des Einschränkenden in die Debatte geworfen.
Man kann hören und lesen, der Dichter sei im Grunde
doch nur ein Pfleger und Beherrscher poetischer Kleinformen
gewesen. Als ob nicht auch in dieser Form
tiefste Gefühle ausgesprochen, Grundwahrheiten erlotet,
das purste Gold erschürft werden könnte!

Wo es sich um unvergängliche Werte der Kunst handelt
, ist nicht der Drang in die Breite, nur der Drang
nach der Tiefe das Entscheidende. Die hohe Geltung
erwirbt sie sich nicht nur durch Tragödie, Epos oder
Roman, Großformen, angetan, das Auge zu bestechen;
sie kann ebenso wohl in einem lyrischen Gedichte, in
einer Kalendergeschichte niedergelegt sein. Ist nicht die
Melodie des Schubert'schen „Lindenbaum" gleich unvergänglich
wie Beethovens „Eroica", Hebels „Vergänglichkeit
" oder „Kannitverstan" nicht ähnlich kostbarer Besitz
unseres Volkes wie ein Werk von Schiller, Hölderlin
oder Goethe?

Gewiß entringen sich den Stürmen der Leidenschaft,
wenn sie niederwühlen bis in die tiefsten Klüfte des
menschlichen Herzens, hochlodernde Erkenntnisse, deren
Flammenspur wir schon wegen des kämpferischen Geistes
, der sie in faustischem Drang eroberte, nicht missen
möchten. — Allein auch dem intuitiv sich versenkenden
Blicke, dem Herzen, das still und tief mit sich zu Rate
geht, der milden Gewalt jener „höheren, weiteren
Liebe", als welche Jean Paul einmal die Dichtung
charakterisiert hat, entschlüsseln sich die Gesetze und
Geheimnisse des Seins. Nur der Weg, nicht das Ziel ist
verschieden. Und mir will scheinen, gerade in der genannten
Art eines leisen, aber trotzdem leidenschaftlich
intensiven Einsinkens in den poetischen Gegenstand
besitzen wir in unserer Dichtung Werke und Werte, auf
die sich mit nicht geringerem Stolze blicken läßt als auf
jene Schöpfungen, die Früchte wilderregten Dranges
sind. Auch diese „Idylliker", Erfüller eines scheinbar
kleinen Kreises, haben wahrhaft Bedeutendes, Unvergängliches
geschaffen; und so dürfen sich Genien wie
unser Hebel getrost in den Ring jener Hochgestimmten

reihen, ohne deren Wirken Kunst- und Geistesschaffen
der entscheidenden" Grundlagen entrieten.

Nicht minder klassisch geworden als der Sänger der
alemannischen Gedichte ist vor allem der Erzähler, der
Kalendermann des Rheinländischen Hausfreunds. War
die alemannische Muse durch den Zwang des inneren
Müssens geweckt worden, so spielen bei der Schaffung
der ersten Kalendergeschichten äußere Anlässe und
Umstände mit. Allein diese haben in Hebel schließlich
nur die praktische und künstlerische Betätigung einer
Eigenschaft ausgelöst, die ebenso wie das lyrische Vermögen
ein Gunstgeschenk der Musen war, der Erzählergabe
.

Im übrigen bedeutete dieser erzählerische Drang, der
sich in des Dichters Kalendergeschichten niederschlug,
keineswegs das Aufziehen einer bis dahin gestauten
Schleuse. Er war schon in Hebels Briefen zu spüren
gewesen, wo wir bereits kleine Meisterwerke der Erzählerkunst
antreffen, so etwa im „tragikomischen Ende
einer Bartschüssel", das ohne wesentliche Änderungen
aus dem Briefe an Gustave Fecht vom 6. Januar 1805
in die erzählenden Schriften hätte übernommen werden
können. Und wie in den Briefen der Empfänger, so
fühlt sich in den Kalendergeschichten der Leser von
Hebel persönlich angesprochen. Man braucht den Autor
nicht erst lang zu suchen. Er macht kein Versteckspiel,
kommt und bequemt sich zum Leser.

Die Begegnung ist zwanglos; wie und wo man sich
eben trifft im Leben: auf der Kunst am Ofen, beim
Pfeifenstopfen, mitunter nur durchs Fenster hinein, im
Wirtshaus, aber auch beim feiertäglichen Spaziergang,
während die Morgenglocken ihren Ruf erheben. Dabei
versteht sich der Hausfreund trefflich auf die Kunst,
eine gewisse Aura des Geheimnisvollen, die seine Person
umschwebt, sich niemals ganz verflüchtigen zu lassen
. Auf so jovialem Fuße er mit seinen Leuten steht,
so herzlich er jedem die Grußhand entgegenstreckt,
niemals würde ihm einfallen, sich gemein mit ihnen
zu machen. Eine von feinstem Herzenstakt dosierte
Mischung von Vertrautheit und Distanz bestimmt seine
Art, sich zu geben und nehmen zu lassen. Wem immer
aber unser Hausfreund auch entgegentreten mag, bei
niemand ist er um ein Wort, um einen Gesprächsstoff
verlegen. Weil er zu vielen spricht, muß er vielen etwas
bringen. Deswegen hat er unergründliche Taschen, aus
denen er die mannigfaltigsten Dinge hervorzukramen
versteht: Denkwürdigkeiten aus dem Morgenland, ein
Zeitungsblatt mit einem fürchterlichen Kampf eines
Menschen mit einem Wolf, ein Mittel, um Rebpfähle
dauerhaft zu machen, Hinweise zur Fabrikation grüner,
blauer oder roter Tinte, eine Rätselnuß, ein Rechnungsexempel
oder ein Bündelchen guter Lehren. Und nun,
da er so recht im Zuge ist, entbreitet die erzählerische
Phantasie ihre Schwingen, fühlt sich wohl auch der
Schalk geweckt, und Till Eulenspiegel wird neu geboren
in den Gestalten des Zundelfrieder und Zirkel-
schmied.

So bunt und abwechslungsreich diese erzählerische
Welt auch sein mag, sie- wurzelt mit allen ihren Fasern
in einer einheitlichen, männlich gefestigten Grundanschauung
vom Wesen der Welt und der Dinge, in
einem bestimmten geistigen Charakter, der sich bis in
die feinsten Linienzüge der Erzählung durchzeichnet.
Hebels spekulativer Geist, beheimatet in einem wissend
gefestigten, erfahrungsreifen Herzen, erschafft seine
Gebilde nicht aus dem kreisenden Grund der Unrast,


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