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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1956-06/0003
Die Markgrafschaft

Nr, 6/1956 Monatszeitschrift des Hebelbundes und des Sdiwarzwaldvereins 8. Jahrgang

@t)rfutdjt von htm ÄJefen bzt anbtm

Wenn ich an meine Jugend zurückdenke, bewegt
mich die Tatsache, daß so viele Menschen
mir etwas gaben oder etwas waren, ohne daß sie
es wußten. Solche, mit denen ich nie ein Wort
gewechselt habe, ja auch solche, von denen ich
nur erzählen hörte, haben einen bestimmten Einfluß
auf mich ausgeübt. Sie sind in mein Leben
eingetreten und Kräfte in mir geworden. Gar
manches, was ich sonst nicht so klar empfunden
und so entschieden getan hätte, empfinde und
tue ich so, weil ich wie unter dem Zwang jener
Menschen stehe. Darum kommt es mir immer
vor, als ob wir alle geistig von dem lebten, was
uns Menschen in bedeutungsvollen Stunden unseres
Lebens gegeben haben. Diese bedeutungsvollen
Stunden kündigen sich nicht an, sondern
kommen unerwartet. Auch nehmen sie sich nicht
großartig aus, sondern unscheinbar. Ja, manchmal
bekommen sie ihre Bedeutung für uns erst
in der Erinnerung, wie uns die Schönheit einer
Musik oder einer Landschaft manchmal erst in
der Erinnerung aufgeht. Vieles, was an Sanftmut,
Gütigkeit, Kraft zum Verzeihen, Wahrhaftigkeit,
Treue, Ergebung in Leid unser geworden ist, verdanken
wir Menschen, an denen wir solches erlebt
haben, einmal in einem großen, einmal in
einem kleinen Begebnis. Ein Leben gewordener
Gedanke sprang wie ein Funke in uns hinein und
zündete.

Ich glaube nicht, daß man in einen Menschen
Gedanken hineinbringen kann, die nicht in ihm
sind. Gewöhnlich sind in den Menschen alle guten
Gedanken als Brennstoff vorhanden. Aber vieles
von diesem Brennstoff entzündet sich erst oder
erst recht, wenn eine Flamme oder ein Flämm-
chen von draußen, von einem anderen Menschen
her, in ihn hineinschlägt. Manchmal auch will
unser Licht erlöschen und wird durch ein Erlebnis
an einem Menschen wieder neu angefacht.

So hat jeder von uns in tiefem Danke derer
zu gedenken, die Flammen in ihm entzündet haben
. Hätten wir sie vor uns, die uns zum Segen
geworden sind, und könnten es ihnen erzählen,
wodurch sie es geworden sind, sie würden staunen
über das, was aus ihrem Leben in unseres
übergriff.

So weiß auch keiner von uns, was er wirkt
und was er Menschen gibt. Es ist für uns verborgen
und soll es bleiben. Manchmal dürfen wir
ein klein wenig davon sehen, um nicht mutlos zu
werden. Das Wirken der Kraft ist geheimnisvoll.

Überhaupt, ist nicht in dem Verhältnis des
Menschen zum Menschen viel mehr geheimnisvoll
als wir es uns gewöhnlich eingestehen? Keiner
von uns darf behaupten, daß er einen andern
kenne, und wenn er seit Jahren täglich mit ihm
zusammen lebt. Von dem, was unser inneres Erleben
ausmacht, können wir auch unseren Vertrautesten
nur Bruchstücke mitteilen. Das Ganze
vermögen wir weder von uns zu geben, noch
wären sie imstande es zu fassen. Wir wandeln
miteinander in einem Halbdunkel, in dem keiner
die Züge des andern genau erkennen kann. Nur
von Zeit zu Zeit, durch ein Erlebnis, das wir mit
dem Weggenossen haben, oder durch ein Wort,
das zwischen uns fällt, steht er für einen Augenblick
neben uns, wie von einem Blitz beleuchtet.
Da sehen wir ihn, wie er ist. Nachher gehen wir
wieder, vielleicht für lange, im Dunkel nebeneinander
her und suchen vergeblich, uns die Züge
des andern vorzustellen.

In diese Tatsache, daß wir einer dem andern
Geheimnis sind, haben wir uns zu ergeben. Sich
kennen will nicht heißen, alles voneinander wissen
, sondern Liebe und Vertrauen zueinander
haben und einer an den andern glauben. Ein
Mensch soll nicht in das Wesen des andern eindringen
wollen. Andere zu analysieren — es sei
denn, um geistig verwirrten Menschen wieder
zurecht zu helfen — ist ein unvornehmes Beginnen
. Es gibt nicht nur eine leibliche, sondern auch
eine geistige Schamhaftigkeit, die wir zu achten
haben. Auch die Seele hat ihre Hüllen, deren
man sie nicht entkleiden soll. Keiner von uns
darf zum andern sagen: Weil wir so und so zusammengehören
, habe ich das Recht, alle deine
Gedanken zu kennen. Nicht einmal die Mutter
darf so gegen ihr Kind auftreten. Alles Fordern
dieser Art ist töricht und unheilvoll. Hier gilt
nur Geben, das Geben weckt. Teile von deinem
geistigen Wesen denen, die mit dir auf dem Wege
sind, so viel mit als du kannst, und nimm als
etwas Kostbares hin, was dir von ihnen zurückkommt
.

Es lag vielleicht an meiner ererbten Verschlossenheit
, daß mir die Ehrfurcht vor dem geistigen
Wesen des andern von meiner Jugend an etwas
Selbstverständliches war. Nachher bin ich in dieser
Anschauung immer mehr befestigt worden,
weil ich sah, wie viel Leid und Weh und Entfremdung
daher kommt, daß Menschen den Anspruch
erheben, in der Seele der andern zu lesen
wie in einem Buch, das ihnen gehört, und daß
sie wissen und verstehen wollen, wo sie an den
andern glauben sollten. Alle müssen wir uns
hüten, denen die wir lieben, Mangel an Vertrauen
vorzuwerfen, wenn sie uns nicht jederzeit in alle
Ecken ihres Herzens einblicken lassen. Es ist ja
fast so, daß wir, je näher wir uns kennen, einander
um so geheimnisvoller werden. Nur wer Ehrfurcht
vor dem geistigen Wesen anderer hat, kann
andern wirklich etwas sein.

Aus: Albert Schweitzer: „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit
", Biedenstein Verlag, München.


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