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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1956-07/0003
Die Markgrafschaft

Nr. 7/1956 Monatszeitschrift des Hebelbundes und des Schwarzwaldvereins 8. Jahrgang

Albert Schweitzer:

über Me &ulb\amfr\t

Als das Elsaß durch Ludwig XIV. französisch
wufde, bestimmte dieser, um die Protestanten zu
demütigen, daß in den protestantischen Dörfern,
in denen zum mindesten sieben katholische Familien
wohnten, den Katholiken der Chor eingeräumt
werden müßte. Allsonntäglich sollte ihnen
die Kirche zu bestimmten Stunden für ihren
Gottesdienst zur Verfügung stehen. So kommt es,
daß eine Reihe von elsässischen Kirchen protestantisch
und katholisch zugleich sind. In der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist ihre Zahl
dadurch etwas zurückgegangen, daß manche Gemeinden
sich entschlossen, den Katholiken eine
besondere Kirche zu erbauen. Zu Günsbach aber
und anderswo ist die protestantisch - katholische
Kirche bis auf den heutigen Tag bestehen
geblieben.

Der katholische Chor, in den ich hineinschaute,
war für meine kindliche Phantasie der Inbegriff
der Herrlichkeit. Ein goldfarben angestrichener
Altar mit mächtigen Sträußen künstlicher Blumen
darauf; große metallene Leuchter mit majestätischen
Kerzen; an der Wand, über dem Altar,
zwischen den beiden Fenstern, zwei große goldfarbene
Statuen, die für mich Joseph und die
Jungfrau Maria bedeuteten; dies alles umflutet
von dem Lichte, das durch die Chorfenster kam;
und durch die Chorfenster hindurch schaute man
auf Bäume, Dächer, Wolken und Himmel hinaus,
auf Welt, die den Chor der Kirche in die unendliche
Ferne fortsetzte und mit dem Scheine der
Verklärung umflossen war. So wanderte mein
Blick aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit.
Stille und Friede überkamen meine Seele.

Noch eins habe ich aus der zugleich protestantischen
und katholischen Kirche mit ins Leben
hinausgenommen: religiöse Versöhnlichkeit. Die
aus einer Herrscherlaune Ludwigs XIV. entstandene
protestantisch - katholische Kirche ist mir
mehr als eine merkwürdig geschichtliche Erscheinung
. Sie gilt mir als Symbol dafür, daß die
konfessionellen Unterschiede etwas sind, das
bestimmt ist, einmal zu verschwinden. Als Kind
schon empfand ich es als etwas Schönes, daß in
unserem Dorfe Katholiken und Protestanten in
derselben Kirche Gottesdienst feierten. Noch
heute erfüllt es mich mit Freude jedesmal, wenn
ich den Fuß in sie hineinsetze. Ich möchte wünschen
, daß alle noch beiden Konfessionen gemeinschaftlichen
Kirchen des Elsasses als solche erhalten
blieben, als eine Prophezeiung und eine
Mahnung auf eine Zukunft der religiösen Eintracht
, auf die wir den Sinn gerichtet halten
müssen, wenn wir wahrhaft Christen sind.

Die Schwierigkeiten, die durch den gemeinsamen
Besitz der Kirche gegeben sind, lassen sich,
wie die Erfahrungen im Elsaß zeigen, bei einigem
guten Willen von beiden Seiten in befriedigender
Weise lösen. Freilich, wenn gerade zwei etwas
hitzköpfige Seelenhirten sich in das Gotteshaus
zu teilen haben, kann es geschehen, daß dieses
Gemeinsame nicht zur Eintracht erzieht, sondern
Stoff zu Unfrieden abgibt. So kam es im 18. Jahrhundert
in einem Dorf des Unter-Elsasses einmal
vor, daß an einem Pfingstmontag der protestantische
Pfarrer seine Predigt hielt, während der
katholische die Messe las. Sie hatten sich über
die Stunden der Benutzung der Kirche nicht
einigen können.

Der Altar, dessen goldene Pracht ich einst
bestaunte, ist nicht mehr da. Auf die Initiative
eines kunstverständigen katholischen Pfarrers
von Münster hin hat er einem stilvollen Hochaltar
weichen müssen. Maria und Joseph, weil sie
durch ihn verdeckt worden wären, stehen nicht
mehr lichtumflossen zwischen den Chorfenstern.
Ihr Platz ist jetzt zwischen den Seitenwänden des
Chors. Statt miteinander wie vordem segnend in
die Kirche hineinzuschauen, stehen sie einander
gegenüber und betrachten sich gegenseitig. Maria
leuchtet nicht mehr in vornehmem Goldglanze,
sondern hat sich, dem auferlegten Stil entsprechend
, in rot und grün und blau kleiden müssen.

Wenn ich jetzt in der Kirche zu Günsbach
sitze, schließe ich die Augen, um den Chor in der
schlichten Herrlichkeit zu sehen, in der er mich
einstens entzückte. Für meinen in der Vergangenheit
weilenden Blick sind dann in der Kirche auch
Gestalten gegenwärtig, die einstens da waren,
jetzt aber nicht mehr da sind, weil man sie auf
den Friedhof hinausgetragen hat. Die Erinnerung
an die Toten, die einst mit uns Andacht hielten,
gehört für mich zum Ergreifendsten an den Gottesdiensten
in der heimatlichen Dorfkirche. Wie
saßen sie da, die Männer alle in schwarz, die
Frauen in der schlichten alten Münstertälertracht!
Wie viel feierlicher waren sie in Kleidung, Haltung
und Wesen als wir, das neue Geschlecht!

Einer von diesen Alten - Mitschi mit Namen -
war so taub, daß er kein Wort von der Predigt
verstehen konnte. Aber allsonntäglich saß er an
seinem Platz. Als ihn mein Vater einst bedauerte,
daß er ohne zu hören am Gottesdienst teilnehmen
müsse, schüttelte er lächelnd den Kopf und
sagte: „Gemeinschaft der Heiligen, Herr Pfarrer,
Gemeinschaft der Heiligen".

Aus: Albert Schweitzer: „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit
", Biederstein Verlag, München, 1949.


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