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lassen, sondern sind zur Entscheidung in letzter
Stunde aufgerufen. Die heimliche Hoffnung, es
wird schon anders kommen, wenn es genug ist,
gilt nicht mehr, wo die Vernichtung der gesamten
Menschheit und der Erde durchaus als fast
sicher angesehen werden darf. In den folgenden
beiden Verszeilen jedoch ist symbolisch und
metaphorisch eine tiefe Bedeutung und Zusicherung
verborgen. In der Tröstung des „Lieds"
meldet sich die Möglichkeit der Sublimation
unserer Angst und im ,,Vogelsang" die Stimme
der Natur, die heilend uns vor den Schrecken der
Technik zur Umkehr und Wende aufruft. Doch
wird die Gewalt dieser Mahnung etwas unsicher
gemacht durch dieses seltsame Wörtlein „fast",
das uns den Schlüssel zu den geheimnisvollen
Tiefen dieser Dichterseele zu reichen scheint. Es
ist von einem gütigen, aber dennoch zwielichte-
nen Lächeln umwittert. Wer wagt das Wort uns
zu deuten?
V
Die tragischen Hintergründe in Hebels Leben
sind nicht aufgeklärt, er war ein Verhüller großen
Stils, nicht aus List und Heuchelei, sondern
aus Herzensgüte, er hat das in der Stille ganz
allein abgemacht, wie Hermann Burte sagt. Freilich
, damit sind auch viele Zweideutigkeiten und
Unentschiedenheiten entstanden. Wir sehen es
immer als erschütternd an, daß Hebel in Scharaden
dichterisch resigniert hat, jener fast kindischen
Simplifikation des ewigen Sphinxrätsels
menschlicher Tragik, und jenes Wort über Robert
Schumann, er habe als Genie begonnen, um als
Talent zu enden, trifft noch mehr auf Hebel zu.
Jenes Namensrätsel: „Ich helfe Kisten laden,
doch mach' ich auch Scharaden!" — ist entsetzlich
, und hinter der Fratze des blöden Witzes
spürt man die ängstlich verborgene Maske tragischer
Schwermut. Jene ganze Biedermeierwelt
des Vormärz in Karlsruhe hat für unseren heutigen
Rückblick etwas Gespensterhaftes, zumal
wenn man die von der Zähringer Historiographie
sorgsam kaschierten Vorgänge der Hofintrigue
bedenkt. So glatt und freundlich darum dieser
„Trost" von Hebel auch äußerlich und oberflächlich
erscheint, es sind da noch dunklere und unheimlichere
Sachen „ähnedra". Je mehr uns das
zum Bewußtsein kommt, um so mehr ergreift
uns aber auch der gütige Ton der Tröstung:
„'s isch jo nit so schlimm!" Nur dem Spießbürger
unserer Gegenwart dürfen wir es nicht
als Legitimation seiner phlegmatischen Lethargie
überlassen. Heideggers Hebelapotheose hat nichts
mit dem geistlosen Biedermannklischee des landläufigen
Hebelkults zu tun.
Aber wie steht es nun damit: Ist es schlimm
oder nicht?
Die Dualität des Lebens steht nie auf 50 still,
sondern pendelt immer zwischen 49 und 51 auf
und nieder!
Wir hören darum „trotz allem" aus dem
„Trost" von Hebel die Stimme der Zuversicht
heraus, den wenn auch schüchternen Ruf des Ja-
Sagens, den wir dann mit Goethe zur „Beherzigung
" sublimieren:
Feiger Gedanken Allen Gewalten
bängliches Schwanken, zum Trutz sich erhalten,
weibisches Zagen, nimmer sich beugen,
ängstliches Klagen kräftig sich zeigen,
wendet kein Elend, rufet die Arme
macht dich nicht frei! der Götter herbei!
Theodor Seidenfaden:
3n 7ot)ann fletet: Lfybel
Ein Brief zur 130. Wiederkehr seines Todestages, dem 22. September 1956
Meister, man sagt, Du seiest gestorben. Ich
glaube es nicht. Mir jedenfalls lebst Du seit den
Tagen der Jugend wie ein Verwandter, zu dem
ich gern in die Stube trete, mich zu erholen von
dem, was im „Wirklichen" hastender Tage sich
bläht und die Fäden des Ewigen grausam zerreißt
.
Zwar führte mich manchmal weite Fahrt in
Dein Heimeliges, und oft war der Weg dornig.
Doch wenn ich ihn wagte und er gelang, trat ich
stets beschenkt in den Werktag zurück, war es,
vals hätten uralte Schätze Seele und Sinne geadelt
: sie leuchteten mild durch die Stunden des
Tages und tun es noch heute, wie sie es taten
vor sechzig, vor fünfzig, vierzig, vor dreißig, vor
zwanzig oder vor zehn der eilenden Jahre, die
Kriege, täuschenden Frieden, Kummer und manche
Zerwürfnisse brachten, auch Freuden genug.
Nie vergesse ich den Spätnachmittag, da mir
ein Lehrer den Weg zu Deinem Schatzkästlein
wies. Er las uns die Anekdote „Kannitverstan",
und bald verstummten wir Jungen der Großstadt
Köln in lauschender Stille. Die weißgetünchten
Schulsäle wuchsen ins Weite. Wir atmeten
„Welt", sahen die Schiffe des Meeres und
Schätze fremdländischer Zonen. Plötzlich war ich
der Bursche, der durch die reiche Stadt Amsterdam
ging und dort der Fülle des Lebens, doch
auch dem Tode begegnet und später erst merkt,
daß er tiefste Weisheit erfuhr. Wie schauerte ich,
als der Sarg des wohlhabenden Mannes ins Grab
sank! Als dann der Bursche Limburger Käse aß,
lachte ich hell und weinte auch still und fühlte,
zwar dunkel, doch unmittelbar stark das Wehen
es echten Humors.
Das war für mich die Stunde, da der Dichtung
großes Geheimnis sich meiner Seele vermählte.
Von ihr hängt ja Entscheidendes ab für die Art,
in der das Leben sich weiter entfaltet.
Wie dank ich Dir, daß Du sparsam im Wort
warst: Du berührtest die junge Seele mit einem
Zauberstabe, der das Unbewußte des Schöpferischen
weckt, das „ja" sagt zum Tage, das keine
Probleme, das Aufgaben schenkt und Tapferkeit
will.
Froh begannen Seele und Sinne weiter zu
malen, was Dein Wort holzschnittartig entwarf,
und seitdem ist mir der Oberländer Bursche vertraut
wie ein Vetter, steht Amsterdam mir im
„Schauen", wiewohl ich die Stadt — ich scheue
mich nicht, es den Hastern der Gegenwart-
Fahrer zu sagen — bis heute nicht sah, und
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