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Hanns Bastanier:
Es ist eine sonderbare Sache um die Denkungs-
art der Menschen! Was ihnen vor der Nase liegt,
das sehen sie oft nicht oder schätzen es doch
wenigstens nicht. Was kann schon daran sein,
wenn eine Stätte unmittelbar zu erreichen ist,
wenn schon ein Spazierweg von einer halben
Stunde zu einem Aussichtspunkte führen kann,
der weder einen Stern im Baedeker hat, noch auf
der Landkarte herausgehoben ist, der noch dazu
weder im Ausland liegt, noch „mit 80 Sachen"
im Caracho angesteuert werden kann, wenn es
dort nicht einmal eine Raststätte gibt, wo man
sich durch klappernde Kaffeetassen, Stimmengewirr
, Radiogedudel und Ansichtspostkarten
den Blick auf die'Landschaf t „erschließen" lassen
kann? Zählt solche stille Stätte überhaupt noch
mit? Man möchte es fast bezweifeln. Denn wenn
man sich im Herbst erkundigt, wo dieser oder
jener in den Ferien gewesen ist, dann kommt
man sich äußerst kümmerlich und spießbürgerlich
vor, wenn man selber nicht mit fremden
Namen um sich werfen und von „Einblicken in
fremdes Volkstum" mitreden kann.
Aber wie man als junger Mensch aus der
Familie wegstrebt um „etwas zu erleben" und
dann nach mancherlei Erfahrungen und nach
etlichen Jahrzehnten dankbar wieder in ihre
freundliche Umgrenztheit zurückzukehren, froh
der Weite und oft Leere wieder entronnen zu
sein, so wird wohl auch die Zeit einmal wieder
kommen, wo „man" den Reiz des Kilometerfressens
eintauschen wird gegen den bemessenen
Schritt in die Schönheit der nächsten Heimat, wo
man wieder wandert, schaut und erlebt, nicht
trotz der Fernstraßen, Reiseomnibusse und
Fluglinien, sondern neben ihnen und als
Gegengewicht gegen die angebliche Rastlosigkeit
des Lebens, die doch nur unsere eigene Rastlosigkeit
ist.
Eines schönen Morgens, es war ein Sommersonntag
, begann um V25 Uhr früh unser Spaziergang
. Das Städtchen lag im zarten Morgenlicht
des heraufziehenden Tages, die Straßen waren
sonntäglich still und sauber. Nur die Schwalben
.waren schon emsig tätig und jagten jubelnd um •
die Giebel und Ecken der Häuser und gaben der
Morgenstunde den festlichen Klang, den nur ein
Sonntag haben kann. Bald lagen die letzten
Häuser hinter uns, und wir tauchten in den
Duft der feuchten Wiesen, die sich weithin dehnen
und von vielen die sanften Hänge emporkletternden
Obstbäumen belebt sind. Nach wenigen
Minuten des Wanderns beginnt das kleine
Tal, in das wir einbiegen und das wir, ohne uns
umzuschauen, sanft aufwärts steigen. Zur Linken
dehnen sich, in feinen Nebel gehüllt, die blühenden
Wiesen und Obstgärten, bis hin zum nächsten
Hang; zur Rechten grüßen die Markgräfler
Reben im Schmucke ihres saftiggrünen Laubes.
Der Weg ist ein echter Feldweg. Man muß jeden
Schritt bemessen, um nicht in weichen Lehm
oder auf riesige ovale Rheinkiesel zu treten, die
zur „Wegebesserung" angefahren worden sind.
Eine Miniaturquelle tropft ihren sanften Laut in
die Stille der betauten Gräser und ein paar vorwitzige
Käfer beginnen ihr rastloses Tagewerk.
In der Schlehdornhecke, die eine Zeitlang unseren
Weg begleitet, huschen Meisen und andere
Vögelchen durch das Gewirr der Äste, und von
weit her tönt das Flöten einer Amsel. Auf halber
Höhe ladet eine Bank zur Rast, aber wir widerstehen
der Lockung und sparen uns den Rückblick
auf, bis wir ganz oben sind.
Es wird hell und heller, und schließlich, nach
zehn Minuten, taucht ein Bammerthäuschen auf,
das über die Linie des sanft geschwungenen
Hügelkammes ragt und sich farbig vom seidig
blauen Himmel abhebt. An Kornfeldern und
Reb-Äckern vorbei steigen wir langsam und
erwartungsvoll die letzten dreißig Meter sanft
empor und stehen nun auf dem Kamm des Hügels
neben dem Bammerthäuschen.
Jetzt erst drehen wir uns um und schauen
voller Staunen und stiller Andacht auf ein
Panorama von bezaubernder Herrlichkeit und
erschütternder Größe. Aus dem silbrigen Morgennebel
hebt sich über einem Eichwald mit warmen
grünen und braunen Tönen die ganze eindrucksvolle
Silhouette des Blauen in gedämpften blauvioletten
Farben wie eine Märchenburg über
einer überirdischen Erde. In feinsten Tonabstufungen
, durch den Silber-Nebel zart verhüllt,
steigen die Wälder und Hänge auf, und duftig,
wie hingehaucht, liegen die Häuser von Sehringen
, Haus Baden und Badenweiler vor uns. Die
große schöne Linie dieses herrlichen Wahrzeichens
des Markgräfler Landes schwingt sich wie
ein Akkord aus Beethovens Pastorale in das
strahlende Licht des golden leuchtenden Morgenhimmels
, der für den nächsten Augenblick die
Sonne verheißt, die schon dicht unter dem Tannensaum
des Blauengipfels stehen muß.
Jeder Acker, jede Hecke, jede Bodenwelle,
ja selbst das Menschenwerk der Häuser sind ins
Transzendente erhoben durch den zarten, aber
doch leise verhüllenden Nebel, dessen physikalisches
Wunder der schwebenden Tröpfchen dem
Weltbild einen Schimmer überirdischer Vollkommenheit
verleiht und einem selber vorspiegelt
schwerelos zu sein.
Wir schweigen und schauen..., dann spricht
meine Frau leise Mörikes vollendete Verse:
Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.
Und nun kommt, erwartet und doch überraschend
, plötzlich, der erhabene Augenblick, wo
ein goldenes Auge durch die Tannenkante des
Blauengipfels blickt, und gleich darauf senkt sich
das eigene Auge demütig vor der Herrlichkeit
Gottes, der wir Menschen nicht ins tötlich strahlende
Antlitz schauen können. '
Aber das ist ja erst der Anfang dessen, was
man da oben sehen kann! Nach Süden zu schweift
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