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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1957-05/0011
in raschem Schritt fünf Stunden. Er marschierte
vor Sonnenaufgang ab und erlebte, wie wundersam
auf den Vorbergen des Schwarzwaldes der
Morgen erwacht.

Noch spannen Träume um die Gipfel. Die
Ebene, in welcher er den Rhein wußte, wob
graue Schleier. Hin und wieder blitzten sie diamanten
auf, und allmählich begann das Farbenspiel
das dem Frühling Koralleninseln durch die
Meere der frühen Himmel zaubert. Als dann der
Purpur stieg und die Sonne sich aus der Unendlichkeit
hob, wäre er mit seinen Männern am
liebsten stehen geblieben, das Morgenlied Kinkels
zu sprechen. Der Auftrag aber verbot ihm
unnötige Rast, und so marschierte er weiter
und sah, wie der Purpur sich verströmte und die
Sonne jene heitere Klarheit über das Land goß,
die den Dekan von Emmendingen veranlaßt
hatte, beim letzten Konveniat des Hungerjahres
den badischen Traum der himmlischen Landschaften
zu beschwören.

Der Schurz schritt an der Spitze seiner Freischärler
wie ein General vor einer Armee alten
Schlages, wiewohl seine Truppe kaum soldatisch
aussah. Sie hatte zwölf Musketen ohne Pulver.
Spieße, Sensen und Dreschflegel sollten den
Musketen, wenn es not tue, beistehen, und nur
die schwarzrotgoldene Schärpe des Schurz versinnbildlichte
das Ideal, um welches die jungen
Männer marschierten. Das Auf und Ab der Bergstraße
, Vogelrufe und Tauperlenspiel der Gräser,
Veilchenduft aus Waldhängen bewegten sie, und
da die Bilder ständig wechselten, jetzt eine Lichtung
, dann einen Taleinschnitt und bei der nächsten
Biegung eine urzeitrissige Felsnase wiesen,
behielt der Schurz, trotz der Mühsal des Weges,
die Frische, deren ein Revolutionär bedarf, den
ersten Auftrag der erträumten Laufbahn durchzuführen
.

Der Schnezler, der nicht ahnen konnte, wie
ihn der Frühlingsmorgen zwischen zehn und elf
Uhr beim Schöpfe nehmen und ins Unheimliche
der Weltrhythmen des Manifestes drängen werde
— obwohl der Schurz kein Kommunist war —,
saß, derweil dieser marschierte, in der Behaglichkeit
seiner Arbeitsstube. Die Fenster standen
offen, eines straßen-, das andere gartenwärts.
Blühende Birnbäume ragten, und die Bienen
summten den braungelben Honigchor. Der
Schnezler hatte das Geschichtswerk Herodots
vor sich liegen: eine neue Übertragung, die er
sich zur Weihnacht des Hunger jähr es geschenkt
hatte.

Die Ägypter, sann er, sich von der Lektüre
zurücklehnend, schufen das Reich der Pyramiden
und sanken ins Geheimnis der Sagenvölker.
Assur und Babylon vereinen sich zum assyrischen
Weltreiche, der Perser Kyros erobert
Babylon, Salomo baut den goldenen Tempel zu
Jerusalem, Karthago wächst an, das persische
Weltreich verbindet die Völker Vorderasiens zu
einer Einheit und ihr blüht jenes Griechentum
entgegen, das die Mystik und die Dämonie des
Orients durch die Klarheit seiner Philosophie
und die Erkenntnis der Naturgesetze überwindet
, und sein Geschichteschreiber ist Herodot.

Völker kommen und gehen, ihre Staatsformen
wechseln, Tyrannen lösen weise Könige ab, der
Widerstreit des monarchischen, aristokratischen
und demokratischen Lebensgefühles ist also
menschheitbedingt. Die geschichtliche Vernunft
geht tiefer als die des einzelnen, und so bleibt
Herodot, der Erzähler aus Harlikanossos jung.
Wer komponiert wie er! Ich bedaure, daß unserem
zerklüfteten Volke ein Geschichteschreiber
seines Ranges fehlt, ein Meister, dem es gegeben
ist, zu erzählen und bei der Einsicht in die allgemeinen
Verhältnisse die Kraft bewahrt, unvergleichliche
Reize von Anekdoten auszustrahlen.
Sie gehen durch die Jahrhunderte. Wer wird im
Jahre des Herrn 2850 noch des kommunistischen
Manifestes gedenken? Den Herodot aber liest
man auch dann, entzückt von ihm wie ich, der
Pfarrer zu Köndringen, der Zeitgenosse jener
Emigrierten, die von London aus die Welt beunruhigen
!

Er neigte sich über das Buch zurück, blätterte
und las, den Geist zu entspannen, wieder einmal
die Geschichte Arions, des Sängers: da marschierte
der Schurz mit den Freischärlern durch
Köndringen an der Kirche vorbei auf das
Pastorat zu und stand bald — die fünfzig Bewaffneten
hielten auf der Straße —, vor dem
Schnezler, der bei den Lärmschritten den Herodot
hingelegt hatte und aufgesprungen war.

Der Schurz, empfindsamer als er sich eingestehen
wollte, erlebte die wohlgeordneten Bücherregale
und Bilder; unter ihnen Ludwig Richters
Bleistiftzeichnung zu Arndts Lied von dem
Gott, der Eisen wachsen lasse, eindringlich, sobald
er die Arbeitsstube betrat. Er überwand
jedoch die Hemmungen, die ihn überkommen
wollten, legte dem Schnezler die rechte Hand
auf die Schulter und nannte ihn seinen Gefangenen
. Da er bemüht blieb, die ihm zugewiesene
Rolle würdig durchzuführen, setzte er zu dieser
Zeremonie des Verhaftens ein Gesicht auf, vor
welchem er erschrocken wäre, wenn es sich ihm
in einem Spiegel gezeigt hätte. Doch der Schnezler
überragte ihn um einen Kopf und war als
Bauernsohn des Kinzigtales erfahren im Ringkampf
Mann gegen Mann, weshalb er unge-
schreckt blieb.

Der Schurz mußte sich — auch das ist natürlich
—, ob dieser Ruhe verletzt fühlen, zumal
der Schnezler, spitzbübisch, wie. es nur einem
Alemannen möglich ist, zu lachen begann und
auffuhr: „Mich verhaften wollen Sie? Das ist
ein Scherz! Nicht übel! Ich sehe, Sie sind Student
! Die Schnüre der Pekesche verraten Sie.
Auch ich war's und kenne derlei Streiche. Die
Heidelberger Fuchsenzeit ist mir unvergeßlich.
Zwei Semester studierte ich Jura, bevor ich nach
Freiburg ging und in die Theologie umsattelte.
Sie spielen Ihre Rolle ausgezeichnet. Wo warten
Ihre Kommilitonen? Herodot — ich las eben in
ihm —, freute sich, eine Anekdote dieser Art
bringen zu können; aber Studentenstreiche gab's
in der Antike kaum. Wir trinken einen Morgenschoppen
miteinander, eine Flasche Mundelsheimer
: geistreiche Creszenz, sage ich Ihnen!"

Er nahm die Schelle, die auf dem runden
Mahagonitisch stand und wollte der Haushäl-

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