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Als der Zug talaus zur Kirche marschierte
, schritt der Michel gravitätisch mit,
den großen dunkelblauen Regenschirm wie
ein Gewehr geschultert. Auch in der Kirche
verlor er seine Würde nicht; es sah ja niemand
, daß er nur einen alten Militärknopf
in den Klingenbeutel warf.
Würdig setzte er sich auch im „Ritter"
an die Hochzeitstafel. Nicht ganz oben hin,
so schlau war er schon, — aber noch dort,
wo die engere Verwandtschaft saß und
die besseren Stücke verteilt wurden. Das
Regendach stellte er vor sich zwischen den
Knien auf den Boden und begann mit
Umsicht das wichtige Werk des Essens.
Nichts konnte ihn dabei stören. Nicht die
Lieder, die der Kirchenchor sang, — nicht
der Sturzbach von Tönen, den die Musik
über die Tische blies, — nicht die Rede
des Stabhalters und nicht die Spottgedichte
der Gespielen. Nach Stunden noch saß er
wie zu Beginn des Tafeins — aufrecht,
aufmerksam nach den Platten Ausschau
haltend, den Regenschirm zwischen den
Knien, und aß.
Und wie er aß! Daß er drei Teller
Nudelsuppe in sich hineinschürfte, ging
noch an, denn am hellen Vormittag eine
Stunde lang in der Kirche stehen zu müssen
, macht Appetit. Daß er vom Rindfleisch
zu dem bißchen Meerrettich auf
seinem Teller fünf Stücke nahm, sah noch
niemand. Aber als er sich beim nächsten
Gang — es gab Bratwürste und Erdäpfelsalat
— nacheinander drei Paar Würste
von der Platte angelte, schaute ihm seine
Nachbarin zur Linken, die dürre Vogten-
grete, entsetzt und bewundernd zu; sie
wollte es ihm gleichtun und nahm sich
auch drei Pärchen. Aber ihr wurde schlecht
davon, und sie mußte eilends für eine Weile die
Tafel verlassen. Als sie wiederkam — noch gelber
im Gesicht als vorher — war man mit dem nächsten
Gang eben zu Ende. Sie sah den Huber-
michel gerade noch die letzten zwei Bratenstücke
von der Platte nehmen. Dann kam das eingemachte
Kalbfleisch. Sechsmal, die Grete sah es
genau, griff der Michel in die Fleischschüssel.
Nachher gab es Nudeln und Sauerbraten. Der
Vogtengrete gingen die Augen über, so oft
häufte der Michel fettglänzende Nudelberge vor
sich hin und so oft spießte er sich die saftigsten
Fleischstücke auf die Gabel. Die Grete mußte
wegschauen, ihr wurde schon vom Zusehen
schlecht.
Unerschüttert saß der Bollenberger auch
noch, als der Kaffee kam und männiglich die
großen roten Schnupftücher entfaltete, um für
die Daheimgebliebenen zwei oder drei Stücke
Kuchen hineinzutun. Der Michel setzte zwei
tüchtige Fetzen Gugelhupf auf sein Tuch. Das
war erlaubt. Aber was er sich sonst noch zum
Essen von Kuchenblechen und Tortenplatten
holte — Gugelhupf und Pflaumen- und Streuselkuchen
, Schneckennudeln und Bretzein —, nein!
Die Vogtengrete zweifelte, daß das mit rechten
Kirche von Otlingen
Foto: Gutermann, Lörrach
Dingen zuging und schlug zur Vorsicht drei
Kreuze. Außerdem aber schoß sie wütend bedeutsame
Blicke umher, um die Tischnachbarn
auf die unnatürliche Schlemmerei des Michel
aufmerksam zu machen. Aber niemand sah vom
Teller auf, niemand ließ sich beim Essen stören,
niemand gebot dem Michel Einhalt.
Am späten Nachmittag dann gesellte sich die
Vogtengrete für den langen Heimweg zum
Hubermichel. Ganz gegen seinen Willen, denn
er mochte das neugierige Weib nicht. Schweigend
stapften sie das Tal hinauf ihren Höfen zu,
den Schnupf tuchbeut el mit den Mitbringseln
achtsam neben sich hertragend. Der Michel hatte
sein Regendach nicht stehen lassen und trug es
schräg in den Arm gelegt, die Zwinge nach oben,
würdevoll wie ein König sein Szepter. Es schien,
als würde er sein Dach noch brauchen. Die Sonne
war längst hinter grauem Gewölk verschwunden,
und der Himmel über den Waldbergen wurde
schwarz und schwärzer. Als die beiden Leutchen
den Oberweiler erreichten, begann es auch schon
zu regnen. Erst ein paar dicke, einzelne Tropfen,
dann ein tüchtiges Gerinnsel, und schließlich
goß es wie mit Kübeln.
Seelenruhig stelzte der Michel weiter. Den
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