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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1959-06/0012
Beginn und Ende ist, bedauert keine Verluste;
sie beweist ihren Reichtum verschwenderisch.
Welch eine unzählige Menge von Blumen und
Insekten zerstört ein einziger kalter Tag! Wie
wenig vermißt man sie, ohnerachtet sie herrliche
Kunstwerke der Schöpfung und Beweistümer
göttlicher Allmacht sind, um mit Kant, dem
Königsberger Weisen, zu sprechen. An einem
anderen Orte wird dieser Abzug mit Überfluß
wiederum ersetzt!"

Johann Jakob Hebel machte eine Pause und
ließ den Blick im Weben der Nachmittagssonne
ruhen. Der Major, die Kameraden, die standen
oder saßen, waren still und spürten gleich ihm
das Ewige, das seinem Wort lebte.

Da er in die Wirklichkeit des Lagers zurückgekehrt
war, fuhr er fort: „Innerhalb zweier
Stunden hatte der Korse erzählt, was mich
erkennen ließ, er sei kein Bandit, sondern ein
Leidender".

„Und woran leidet er?" unterbrach ihn der
Major.

„Litt — muß es heißen!", versetzte Johann
Jakob Hebel, „der Mann mit den roten Zähnen
ist nicht mehr!"

„Wie das?"

Iselins Frage drückte aus, was als staunendes
Erschrecken durch die Lauscher ging.

Doch der Adjunkt ließ sich nicht stören: er
hatte zu erzählen: aufzuzählen wie Glied um
Glied seines Erlebens sich gefügt habe.

Den Korsen mit den roten Zähnen habe das
Gesetz der Herkunft gequält. Er habe aus unheimlichem
Zwang den hassen müssen, der den
Willen einer staatlichen Ordnung gegen die
Wunder dessen kehre, was die seelisch - geistigen
Mächte der Untiefen korsischen Volkstumes bewahrten
. Er habe die Genuesen gehaßt und nie
einen Gulden von ihnen genommen, aber nichts
gegen die Geschichte gehabt, die umgehe und das
Gegenteil behaupte. Er habe Pasquale Paoli, seinen
Landsmann, gehaßt und sei auf seltsame Art
unterrichtet gewesen über das, was auf der Insel
geschehe, auch über uns, die Schweizer und die
vom Rhein, die gekommen wären, dem Paoli zu
helfen. Der Haß habe ihn verpflichtet, zu versuchen
, unser Leben auszulöschen!

„Der Korse, der mich bis zu seinem letzten
Atemzug für einen Bauern seiner Insel hielt",
erhob der Adjunkt seine Stimme, „war unter
meinen Blicken und Worten wie ein Kind, völlig
unachtsam in Bezug auf die Sicherheit seiner
Person, und ich hätte nicht daran gedacht, vom
Kriegsrecht Gebrauch zu machen. Es wäre leicht
gewesen; denn ich blieb Gast in seiner Höhle.
Er war ein Einzelgänger, verfügte jedoch über
Vorräte üppiger Art. Daß ich den heißen korsischen
Wein, den er mir bot, vorsichtig genoß, war
mir selbstverständlich, und nie drängte er, mehr
zu nehmen, als mir behagte. Er teilte die Höhle
mit einem schwarzen Hengst edler Art, und Roß
und Reiter waren Freunde.

Nie begegnete mir ein Mann, der so selbständig
das All und die Natur bedacht hatte wie

er. Was er vom Jahr und seinem Kalender
entwickelte, wird mir unvergessen bleiben. Er
nannte Letzteren das höchste Kunstwerk des
bisherigen Menschen. Der Kalender versuche, das
Unendliche zu messen; Jahrzehntausende seien
vergangen, bevor man festgestellt habe, die
Sonne verschwinde dreihundertfünfundsechzig-
mal in der selben Richtung, an scheinbar festliegendem
Punkte. Es gebe jedoch einen Sternentag
mehr als man Sonnentage habe; das füge
sich — so habe der Mensch allmählich erkannt —
zu einem bedeutsamen Zeitabschnitt. In ihm
durchlaufe die Oberfläche der Erde alle Wechsel,
die sie durch den höheren oder niederen Stand
der Sonne erfahre. Man habe eine kalte, eine
heiße und wieder eine milde Zeit festgestellt,
den großen Abschnitt Jahr, die vier kleineren
Abschnitte Jahreszeiten genannt. Der Mond mit
seinen wechselnden Gestalten habe — das hätten
die Völker durch genaues Beobachten gefunden

— in dem Kreislaufe dreizehn Vollmonde, eben-
soviele erste und letzte Viertel gezeigt und sei
dazu dreizehnmal in den Strahlen der Sonne
verschwunden. Man habe demnach diese Zahl
von Mondmonaten gezählt, sie aber wegen der
zwölf Sternbilder, die das schauende Auge entdeckt
und nach Tieren benannt habe, auf zwölf
gebracht, zweiundfünfzig Viertelmonde zu sieben
Tagen erkannt und diese Woche genannt. Sobald
die Stern-Kunde vom Rinder- oder Kamelhüter
auf den Astronomen übergegangen sei — niemand
könne feststellen, wann solches sich zugetragen
habe — sobald es geschehen sei, habe der
Geist schärfer beobachtet und erhebliches Abweichen
gemerkt. Bei den Ägyptern — so wisse
er aus einem alten, ererbten Sternbuche — habe
das Jahr 365 Tage gedauert, aber erfahren müssen
, daß es nach vier Jahren um einen Tag zu
früh beginne; dieses Früher-Beginnen habe nach
365 Jahren schon ein Vierteljahr ausgemacht. Ein
mit der Sommersonnenwende begonnenes Jahr
sei zum Frühjahr zurückgekehrt, Neujahr demnach
zur Zeit der Frühlingsnachtgleiche gewesen,
in 730 Jahren zur Zeit der Wintersonnenwende.

Ich will nicht berichten, was der Rotzahnige
mir von den indischen und griechischen Messungen
zu sagen wußte, wie er darstellte, daß die
Gegenwart das Rätsel nicht gelöst habe, wie es
eine aufgeklärteste Zukunft nicht lösen werde.
Auch von jener Alten will ich nicht sprechen, die
115jährig vor zwanzig Jahren gestorben sei und
die ihn beschworen habe, die Städte als die Verderber
der schauenden Kräfte zu meiden. Sie
habe ihm gesagt, es werde wieder eine Zeit kommen
, die annehme, die Erde stehe still und sei
die Mitte der Schöpfung, weil diese Zeit das
Unendliche nicht ertragen könne. Auch von dieser
Alten, an deren Grab er mich am zweiten
Tag führte, will ich nicht sprechen. Stets aber

— das muß ich betonen — blieb er lebendigen
Geistes und wortstark".

Johann Jakob Hebel verschnaufte noch einmal
und fuhr dann, wie wenn er nun in einem
Zuge das Erlebte zusammenfassen müßte, gedrängter
fort, zu schildern, was ihm die vergangenen
Nächte gezeigt hätten.

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