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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1959-08/0010
Johannes Helm:

Jn memodam ©tepl)en (Trane

1. TL 1871 / 5. 6. 1900

Wer mag unter den etwa 4000 Gästen, die
Badenweiler im Jahre 1900 aufsuchten, den Namen
jenes Mannes, der in der Liste der Badegäste
als „Autor aus England" Ende Mai und
Anfang Juni aufgeführt wurde, beachtet oder gar
gekannt haben? Stephen Crane, der mit seiner
Frau und seiner Nichte in der Villa Eberhardt
abgestiegen war, kam als Totkranker in den Kurort
, klammerte sich wohl an eine letzte — ach
so schwache Hoffnung und starb wenige Tage
später. Der Arzt, dem sich Crane anvertraut
hatte, um von seinem schweren Leiden geheilt
zu werden, war kein geringerer als Dr. Albert
Fraenkel, der etwa dreißig Jahre lang in Badenweiler
wirkte und im Jahre 1906 die Behandlung
herzkranker Patienten, die bis dahin fast ausschließlich
durch Digitalis-Präparate erfolgte, um
die intravenöse Strophantin-Therapie bereicherte.
Diese umwälzende Neuerung trug dem Arzt in
medizinischen Kreisen den Ehrentitel „Vater der
Strophantin-Therapie" ein. Stephen Crane wurde
nach einigen behördlichen Schwierigkeiten in
seine Heimat überführt und verließ so den letzten
Schauplatz seines irdischen Daseins.

Und damit ging das Leben eines Mannes zu
Ende, von dem die Nachwelt — zumindest im
europäischen Gesichtskreis — nicht mehr viel
weiß. Wer war er? Was veranlaßt uns, fast sechzig
Jahre nach seinem Tode, das Bild seines
Lebens noch einmal aufzurollen? Womit können
wir uns rechtfertigen, wenn wir den nur Achtundzwanzig
jährigen — nach unseren europäischen
Maßstäben also kaum recht Ausgereiften
— uns ins Gedächtnis zurückrufen lassen?
Wäre er ein „Irgendwer", einer von denen, die
irgendein Büchlein geschrieben haben und sich
darum in die Reihe der Schriftsteller glauben
einordnen zu müssen, dann könnten wir mit Fug
und Recht über seinen Namen hinweggehen und
sagen: „Er lebte, schrieb und starb!"

Doch Stephen Crane ist mehr als irgendein
Schriftsteller. Wenn eine namhafte deutsche Tageszeitung
eines seiner Werke in ihren Buchbesprechungen
als „literarisches Geniestück" hinstellt
, wenn eine hochbetagte Frau, die Witwe
des oben erwähnten Arztes Dr. Albert Fraenkel,
sich des jungen Mannes noch heute lebhaft erinnert
, weil er in seiner Eigenart auf ihren Mann
und sie selbst einen besonderen Eindruck ausübte
, wenn schließlich der amerikanische Schriftsteller
Louis Zara, ein erfolgreicher Novellist, das
kurze und turbulente Leben Stephen Cranes als
Vorbild eines groß angelegten biographischen
Romans aufgreift, dann dürfen wir wohl annehmen
, daß sich hinter dem Namen Crane eine Persönlichkeit
verbirgt, die es verdient, aus der Vergessenheit
herausgehoben und eingereiht zu werden
in den Kreis derer, die an der Gestaltung des
geistigen Weltbildes unserer Tage mitgewirkt
haben.

Das Bild der wenigen Lebensjahre, die ihm
beschieden waren, ist rasch gezeichnet. Am 1. November
1871 erblickt Stephen Crane als neuntes
lebendes Kind eines Methodistenpredigers in
Newark im Staate New Jersey (USA) das Licht
der Welt. Mit neun Jahren verliert er den Vater,
mit neunzehn die Mutter. Damit endet für ihn
auch der Besuch der Universität, dem er sich
nicht allzu intensiv gewidmet hat. Schon als
Student beginnt er ein „Studium" eigener Art,
das er nun fortsetzt: er geht in die Elendsviertel
von Newyork, hält sich in zwielichtigen Kneipen
auf, belauscht das Leben auf den untersten Stufen
seiner Vielgestaltigkeit. Er arbeitet als Korrespondent
der „New York Tribüne" und des
„New York Herald". Manchmal hungrig, oft auch
krank, so schlägt er sich durch.

1893 tritt der Einundzwanzigjährige mit einer
ersten bedeutenden literarischen Arbeit an die
Öffentlichkeit, allerdings noch unter dem Pseudonym
Johnston Smith. „Maggie, das Straßenmädchen
" — 1897 auch in deutscher Übersetzung
erschienen — beleuchtet das Leben in den Armenvierteln
der Weltstadt Newyork. Und es ist
bezeichnend, was der junge Autor auf die Rückseite
des Titelblattes eines der ersten Exemplare
schreibt: „Der Wohlstand einiger weniger gründet
sich auf die Geduld der Armen". Auch er
selbst ist einer der Armen: Das Geld zum Druck
seiner ersten Novelle muß er sich bei einem seiner
Brüder leihen! Was aber den Stil dieses
Erstlingswerkes betrifft, so ist darin schon alles
vereint, was seine späteren Werke auszeichnet:
ein außerordentlich scharfer Blick für die Wirklichkeit
des Lebens, gepaart mit einer einzigartigen
Prägnanz des Ausdruckes, an der es nichts
mehr zu feilen gibt. Und mit dem zweiten größeren
Werk, „The Red Badge of Courage" (Die
rote Tapferkeitsmedaille), in dem er sich mit den
Ereignissen des amerikanischen Bürgerkrieges
auseinandersetzt, festigt er seinen jungen Ruhm,
der ihn neben dem ebenfalls früh verstorbenen
Frank Norris als Begünder des amerikanischen
Naturalismus an die Spitze einer Reihe von
Schriftstellern plaziert, die von Sinclair Lewis
über John Dos Passos und William Faulkner zu
Ernest Hemingway führt. Bei Hemingway findet
sich ein interessantes Urteil über Stephen Crane.
In seinem Buch „Die Grünen Hügel von Afrika"
(1935) läßt er in einem Gespräch über amerikanische
Literatur die Bemerkung einfließen, daß
er nur Henry James, Stephen Crane und Mark
Twain zu den guten Schriftstellern zählen möchte
, wobei die Reihenfolge keine Rangordnung sei.
Besonders Mark Twains „Huckleberry Finn" wird
als richtunggebend hingestellt. Aus Cranes Lebenswerk
hebt Hemingway die Kurzgeschichten
„Männer im Boot" und „Das Blaue Hotel" hervor
, wobei er der letztgenannten den größeren
Wert zuspricht. „Die rote Tapferkeitsmedaiile"
(1895) macht den jungen Schriftsteller schlagartig
zum berühmten Spezialisten für Kriegserzählungen
, obwohl er den Krieg selbst noch nie
erlebt hat. Lediglich ein ausgiebiges Studium von

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