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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1960-01/0005
päischen Nationalstaaten müssen den Weg zueinander
finden, wenn sie nicht wie Weizenkörner
zwischen den Mühlsteinen der Weltmächte
zerquetscht werden wollen. Aber den Worten ist
die Tat nicht gefolgt. Nun aber erhebt sich die
Notwendigkeit aufs neue, dringlicher als je. Das
Ziel ist jedoch nicht etwa ein Europa-Staat, der
einem Zentralismus mit allen seinen schwerwiegenden
Folgen Tür und Tor öffnen könnte, sondern
Europa soll sich ohne Preisgabe der nationalen
Besonderheiten auf den Gebieten des
wirtschaftlichen und kulturellen Lebens einigen,
auf denen ein Ubereinkommen zu Nutz und
Frommen der Beteiligten wünschenswert erscheint
.

Während über das anzustrebende Ziel verhältnismäßig
rasch Klarheit besteht, herrschen
über den Weg noch recht unterschiedliche Meinungen
. Aber auch hier werden sehr bald einige
Grundgedanken deutlich. Einmal wird man sich
darüber klar, daß der Weg nach Europa nicht
nur von oben her bestimmt werden darf, sondern
daß auch eine Untermauerung von unten
her erfolgen muß. Staaten können nur stark
sein, wenn ihre kleinsten Zellen, die Gemeinden
, frei und stark sind. So kann auch Europa
nur stark sein, wenn diese Stärke in den Dörfern
und Städten ein unerschütterliches Fundament
findet. Zweitens erkennt man, daß die
Einheit Europas nicht im Abstrakten beginnen
kann, sondern daß sie einen Kristallisationskern
braucht. Was Preußen für das Deutsche Reich
von 1871 bedeutet, was Piemont für Italien ist,
was die alten acht Orte für die Schweiz darstellen
, ist für eine Befriedung Europas das Verhältnis
seiner zwei wichtigsten und stärksten
Kontinentalmächte zueinander: Frankreich und
Deutschland. Aus ihrer Gegensätzlichkeit sind
jahrhundertelang Unruhe und Zwietracht in
Europa hervorgegangen. Die Bereinigimg dieser
schwärenden Wunde ist Voraussetzung zur Heilung
des Grundübels, an dem der gesamte Erdteil
leidet.

Damit ist für die Schweizer Schriftsteller und
ihren deutschen Gast das Programm eigentlich
fast eindeutig vorgezeichnet. Da die „simplen
Leute", wie die Schweizer Schriftsteller sich und
ihre Landsleute ohne Umschweife nennen, auf
die hohe Politik, die oft ihr Fähnlein nach dem
Wind drehen müsse, keinen Einfluß haben,
bleibe ihnen nur der Weg von unten her übrig.
Und da das deutsch-französische Verhältnis ausschlaggebend
für ein einiges Europa zu sein
scheine, müsse als Ausgangspunkt eine Begegnung
französischer und deutscher Bürgermeister
herbeigeführt werden. Soweit die Konzeption
von 1947; und nun die Ausführung.

1948. Auf dem Mont Pelerin hoch über dem
Genfer See treffen zum ersten Male nach dem
zweiten Weltkrieg französische und deutsche
Gemeindeoberhäupter zusammen. Die Schweizer
Initiatoren sind sich darüber im klaren, daß
es ein Wagnis ist, denn der Mißverständnisse
sind noch viele, und eingefleischte Vorurteile,
auf beiden Seiten durch Generationen hindurch
verwurzelt, sind berghohe Hindernisse. Wird man

bereit sein, sich gegenseitig anzuhören? Schon
das allein wäre ein Schritt nach vorn! Wird man
auch versuchen, sich zu verstehen? Dann wäre
viel, vielleicht alles gewonnen!

Der Zufall hilft. Zwei der Anwesenden, ein
Franzose und ein Deutscher, erkennen sich plötzlich
wieder. Der Deutsche, jetzt Repräsentant
seiner Stadt, war in den Kriegs jähren Besatzungsoffizier
in dem französischen Städtchen,
dessen Maire ihm nun gegenübersteht und der
sich deutlich daran erinnert, wie loyal und mitfühlend
der Deutsche damals seine schwere Aufgabe
in Feindesland erfüllt hat. Sie umarmen
sich. Das Eis ist gebrochen. Und daß das „Tauwetter
der Herzen" anhält, besorgt in ihrer mütterlichen
, gütigen und klugen Art die einzige
anwesende Frau, Oberbürgermeisterin Luise
Schröder von Berlin.

So steht von Anfang an ein günstiger Stern
über dieser ersten Begegnung, die einer Bestandsaufnahme
gleichkommt. Die Bürgermeister
von drüben und hüben berichten über ihre Sorgen
, ihre Nöte, vor allem auch über die Wege,
die zu ihrer Behebung eingeschlagen worden
sind. Man erkennt, daß „alle im gleichen Schiff
sitzen". Dann beschließt man, sich wieder zusammenzufinden
. Noch einmal ist die Schweiz das
Gastland; denn der neutrale Boden erleichtert
den Kontakt. 1949 werden die Aufgaben durchgesprochen
, die für eine Zusammenarbeit in
Frage kommen: Information, Besuche, Aufklärung
der Presse, Austausch auf den Gebieten der
Kultur, des Sports, der Freizeitgestaltung, vor
allem Austausch der Jugend.

Bei der dritten Zusammenkunft im Jahre
1950 in Stuttgart wird die Gründung der „Internationalen
Union der Bürgermeister für deutschfranzösische
Verständigimg" beschlossen. Der
Name der Vereinigung wird bald erweitert durch
den Zusatz „und europäische Zusammenarbeit".
Damit ist der 1947 provisorisch festgelegte Weg
gewiesen: Nur über die Verständigimg zwischen
Frankreich und Deutschland ist das Ziel der
europäischen Einheit zu erreichen. In den Statuten
der „IBU" heißt es seither:

„Die Union bezweckt die Pflege freundschaftlicher
Beziehungen unter ihren Mitgliedern mit
dem Ziel, durch enge persönliche Zusammenarbeit
in allen den Gemeinden obliegenden Aufgaben
auf der Grundlage abendländischer .Kultur
zu einer dauernden Verständigung insbesondere
zwischen Deutschland und Frankreich, zum europäischen
Zusammenschluß und damit zur Sicherung
des Friedens, zur Wahrung der persönlichen
Freiheit und der Menschenrechte beizutragen".

Die Pflege freundschaftlicher Beziehungen,
die die IBU also als den Weg zur Erreichung
ihres hohen Zieles ansieht, setzt aber Kontakte
voraus, die sich auf die persönliche Begegnung
von Mensch zu Mensch gründen. Die Zusammenkünfte
zwischen den Bürgermeistern selbst sind
dabei nur als ein Vorspiel anzusehen. Ihnen sollen
weitere Begegnungen zwischen Menschen
jeden Berufes und Standes folgen und so ausgebaut
werden, daß sie zu einem eigenständigen
Gedankenaustausch dieser Gruppen führen. Ent-

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