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dann wieder fort war, fragten wir uns
täglich bekümmert, ob er einst wiederkommen
würde; ob wir ihm wieder in
Günsbach begegnen und abermals durch
die kühle Dämmerung an seiner Seite
wandern würden.
Deshalb habe ich seit heute morgen
das Gefühl, als begebe sich ein Wunder:
die Zeit steht still. Als der Wagen, mit
dem ich von Colmar kam, an der Güns-
bacher Kreuzung hielt, sah ich die vertraute
hohe Gestalt Schweitzers unverändert
auf der weißen Straße stehen.
Ich konnte kaum sprechen, so schlug
mein Herz. Er umarmte mich, und ich
sah wieder in sein Gesicht: mager und
hohl geworden, wahrhaftig, die Haare
weiß; aber die Augen leuchtender als je
über dem hängenden Schnurrbart und
dem gütigen Mund. Schon hat er meinen
Handkoffer ergriffen. Ich protestiere; und
er lacht, sein frisches Jungenlachen, das
ihm eigen geblieben ist: Hast du denn
vergessen, daß es bei mir keine Widerrede
gibt? Und ich füge mich; ich folge
ihm glückerfüllt zum Hause, wo die
treue Frau Martin seit unendlichen
Monaten die Rückkehr ihres Herrn und
Meisters erwartet hat. Wir sprechen zuerst
von unseren Lieben: den Familien,
den Freunden, den Dahingegangenen.
Frau Schweitzer ist gerade zur Erholung
im Schwarzwald. Ich richte mich in dem
freundlich-hellen Zimmer ein, in dem ich
hausen soll, und von wo aus der Blick
weithin über das Tal und die Vogesen
schweift. Vor der Mahlzeit finden wir
ums in dem großen Arbeitsraum zusammen
, den Schweitzer gemeinsam mit
Frau Martin benutzt. Jeder hat dort
seinen Schreibtisch; die Last der Briefe und
Bücher, die der Postbote täglich heranschleppt,
ist kaum unterzubringen. Negerplastiken aus
Holz und Elfenbein, ergreifend in ihrer rauhen
Schlichtheit, und andere Andenken verschiedenster
Art geben dem Raum seine Note. So
Guilmants Taschenuhr, ein Geschenk des großen
Organisten an Schweitzer, in einen Rahmen
gefaßt; gezeichnete und gemalte Motive aus dem
Elsaß und aus Afrika einträchtig nebeneinander;
und schließlich Familienphotographien. Hier ist
mir zumut, als habe uns Schweitzer niemals
verlassen, als hätten wir uns erst am Tag zuvor
getrennt, und als sei der Krieg, die Besetzung,
das ungeheure Schauspiel, dessen Ende nicht
abzusehen ist, gar nicht gewesen oder doch nur
wie ein böser Traum: solch eine ruhige Sicherheit
strahlt dieser Mann aus.
Freundschaft gehört für Schweitzer zu den
ewigen Werten; und nur er kann solche Gespräche
führen, wie sie nun anheben: von Straßburg
, von der Musik und den alten Pariser
Freunden; vom Sittendrama unserer Zeit, von
der Goethe-Rede und von den Erfolgen der
neuen Heilkuren gegen die Lepra. Er hat als
geistig-sittliche Persönlichkeit das Zeug zu mehr
als einem genialen Menschen in sich; und so
schreitet er mit gleichbleibender Leichtigkeit von
den genauesten Erwägungen über Dinge des täglichen
Lebens fort zu den sublimsten Betrachtungen
über Probleme der Ewigkeit. Nach dem
Essen geht er in sein Zimmer, um zu schreiben.
Aber bald wälzt sich nun die Flut der Besucher
heran — alte und neue Freunde, die das Haus
stürmen, sobald seine Anwesenheit ruchbar wird;
und allen hungrigen Gemütern teilt er mit aus
der lebendigen Fülle seines Geistes. Frau Martin
wartet indessen schon auf ihn mit den wichtigsten
Postsachen — einer Korrespondenz, die
neben bescheidenen Anfragen Depeschen der
Staatsoberhäupter, neben vielen Schreiben von
Unbekannten Briefe von den Größten unserer
Tage enthält. Das Abendessen geht in der gleichen
herzlichen Atmosphäre vor sich wie die
Mittagsmahlzeit; dann gehen wir im schönen
Licht des sinkenden Tages, das die Vogesenwäl-
der und die Wiesen des Tales überglänzt, zur
Kirche. „Es langweilt dich doch nicht, ein bißchen
Orgel zu hören?" sagt Schweitzer lächelnd.
Und der Geist Bachs, in ihm wiedererstanden,
überströmt uns mit unbeschreiblichem Wohlgefühl
.
Schweigend treten wir bei eintretender Nacht
den Rückweg an; die ersten Sterne flimmern
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