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über den dunkelnden Bergen. Die verstreuten
Lichter der Dörfer im Tal sind wie ein schwacher
Abglanz der Gestirne. Das Gespräch beginnt
wieder; es wendet sich Goethe zu, den Schweitzer
besser versteht als der Durchschnitt der Zeitgenossen
, sowohl in seinem Denken, dessen
Resonanz heute stärker ist als je, als auch in
seiner Leidenschaft des Erkennens und der inneren
Vervollkommnung. Er läßt Goethes Gestalt
vor uns aufsteigen, wie er aus seinem schönen
Haus am Frauenplan in Weimar tritt, um durch
die nahen Felder zu spazieren, mit den Landleuten
zu reden, sich über eine neue Methode des
Kultivierens oder Pfropfens von Obstbäumen zu
unterrichten, während in seinem Innern sich
langsam die durchgeistigte Architektur des
Faust II zusammenfügt. So richtet sich auch
Schweitzers Gedankengut gleichzeitig auf das
Tagesdasein und die großen Zusammenhänge;
und er führt das Gespräch zurück zu der elsässi-
schen Erde, die ihn geboren hat und die auch
jetzt wieder unter unseren Tritten ertönt, während
wir dem schlafenden Günsbach zustreben.
Er erzählt von einem Schiff, das ihm auf seiner
Fahrt über den Ozean begegnet war, und dessen
Ladung nur aus Särgen mit den Leichen gefallener
Soldaten bestand. Dabei erinnert er sich an
die Exhumierung von Gefallenen des ersten
Weltkrieges im Elsaß, deren Überführung in die
Heimat nach dem Waffenstillstand verfügt wurde.
Wozu dies Transportieren elender Überreste?
Wenn mich Gott während eines Aufenthalts im
Elsaß zu sich ruft, sagt Schweitzer nachdrücklich,
so will ich auf diesem nahen Friedhof mit den
Meinen vereint sein. Aber wenn mich der letzte
Schlaf auf afrikanischer Erde befällt, so soll man
meinen Leib in Lambarene behalten. Ist es nicht
natürlich, daß man ruht, wo man fällt, und ist
die Erde nicht überall die Erde Gottes?
Wir verfallen abermals in Schweigen. Es
schlägt zehn, als wir Schweitzers Haus im Dunkel
vor uns auftauchen sehen. Die flüchtige Vorstellung
des-Todes ist alsbald entschwunden. Er
begibt sich in der abendlichen Stille und Einsamkeit
wieder an die Arbeit, wie er es seit über
einem halben Jahrhundert gewohnt ist. Er ist
mit der Vollendung seines moralphilosophischen
Werkes beschäftigt; einer Botschaft, auf die alle
Welt sehnlich wartet. Ganz seinen Gedanken
hingegeben, ist er uns schon weit entrückt. Ich
bleibe noch einen Augenblick auf dem Wege
stehen und sehe Schweitzer in sein Zimmer
kommen, das fast zu ebener Erde liegt. Er läßt
sich an seinem Schreibtisch nieder; durch das
weit geöffnete, von wildem Wein umrankte
Fenster übersieht man einen Teil des in mönchischer
Einfachheit gehaltenen Raumes. Im Hintergrund
hängen an einer weißen Tür als dunkle
Flecke sein großer schwarzer Hut und sein Überzieher
. Er schreibt; sein Antlitz, von weißen,
nach hinten gestrichenen Strähnen lockeren
Haares umrahmt, neigt sich über den Tisch. Der
Schein seiner Lampe fällt auf die Straße hinaus,
sie matt erhellend. Aber die unsichtbare Strahlung
seines Geistes — das weiß ich gewiß — teilt
sich in diesem Augenblick unzähligen Getreuen,
bekannten und unbekannten, ebenso heilsam mit,
wie in Lambarene die beruhigende Kraft seines
Wesens Leiden lindert und Gemüter aufrichtet.
Aus: Albert Schweitzer „Genie der Menschlichkeit". Fischer - Bücherei.
II.
Ernst Sander:
Annette Roib
2?abentDeüec5 @tjuenbürgertn
Einige Hinweise über Annette Kolb zu geben,
über ihr Werk, ihre Persönlichkeit, ihre geistige
und moralische Haltung, ist ein ebenso verlockendes
wie schwieriges Unterfangen. Verlockend
um des reizvollen Gegenstandes willen
— schwierig, weil Annette Kolbs literarisches
Werk einerseits in sich reich und vielgestaltig
ist, weil aber anderseits ihr Werk nur
einen Teil des Sichauswirkens ihrer Persönlichkeit
bildet. Diese nun aber läßt sich von den
verschiedensten Seiten her betrachten und bietet
von jeder aus andere, überraschende Aspekte
dar. Und ihre Haltung seit ihrem ersten Hervortreten
? Jene unbeirrbare, tapfere, unsentimental
gläubige, bisweilen rebellische, immer für das
als richtig und gerecht Erkannte einsatzbereite,
einsatzfrohe Haltung in zwei Kriegen und drei
Friedenszeiten, die nicht zuletzt ihr den Frankfurter
Goethe - Preis, die Ehrenbürgerschaft Badenweilers
, das Große Bundesverdienstkreuz eingetragen
hat? Auch sie ließe sich auf unterschiedliche
Weise beleuchten und deuten, und zwar
stets positiv, vorausgesetzt, daß man, gleich ihr,
zu denen gehört, „die guten Willens sind". Nun
aber bilden gerade bei Annette Kolb Werk, Persönlichkeit
und Haltung eine Einheit, die zu
zerlegen sich nicht empfiehlt, weil jedes ihrer
Elemente seinen Sinn und seine Bedeutung und
sogar seinen Rang erst durch die andern, ergänzenden
und steigernden erhält. Das gleiche gilt
für ihr literarisches Werk, das sich thematisch in
die Gruppen der Romane und Erzählungen, der
autobiographischen Aufzeichnungen, der Musikerbiographien
, der essayistischen und politischen
Schriften und der Übersetzungen aufteilen läßt
— oder, von der Sprache her betrachtet, in die
deutsch und in die französisch geschriebenen
Bücher.
Aus diesen Andeutungen dürfte sich ergeben,
daß sich mit Annette Kolbs Namen ein vielschichtiger
Komplex verbindet, den in seiner
vollen Ausdehnung darzulegen, auszudeuten und
auszubeuten nicht der Sinn dieser knappen Hinweise
sein kann; sie müssen sich darauf beschränken
, die Engelsmahnung an den heiligen
Augustinus zu wiederholen: „Nimm und lies!"
Zum Glück liegt heute der überwiegende Teil
dessen, was Annette Kolb geschrieben hat, in
deutschen und schweizerischen Neuauflagen vor.
Das war noch vor wenigen Jahren anders: was
nicht vergriffen war, das war verbrannt, vernichtet
, eingestampft worden. Heute jedoch sind
ihre drei Romane, allen voran „Das Exemplar",
ist ihr kleines „Beschwerdebuch", das vielleicht
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