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fiktive Biograph Adrian Leverkühns sagt von
ihr: „Zwischen den Sprachen aufgewachsen,
schrieb sie in einem reizend inkorrekten Privatidiom
damenhafte und originelle Gesellschaftsstudien
, die des psychologischen und musikalischen
Reizes nicht entbehrten und unbedingt zur
höheren Literatur zählten... Von mondäner
Häßlichkeit..., darin sich das Bäuerliche mit
dem Aristokratischen mischte, ganz ähnlich wie
in ihrer Rede das bayerisch Dialekthafte mit
dem Französischen, war sie außerordentlich
intelligent und zugleich gehüllt in naiv fragende
Ahnungslosigkeit. Ihr Geist hatte etwas Flatterndes
, drollig Konfuses, worüber sie selbst aufs
herzlichste lachte... ganz reinen und amüsablen
Herzens. Zu alledem war sie sehr musikalisch,
Pianistin, für Chopin entflammt, um Schubert
literarisch bemüht..."
Lassen wir das Flatternde und drollig Konfuse
, das so oft Anlaß zu einer Fülle köstlicher
Anekdoten gegeben hat, beiseite; verweilen wir
statt dessen kurz bei ihrer Musikalität. Denn die
Musik ist für ihr menschliches Teil von gleicher
Bedeutung wie die Literatur. Daß sie, aufgewachsen
in klassischer und romantischer Tradition
, der modernen Musik gegenüber sich
zögernd verhält, ist begreiflich. Neben Wagner,
in dessen magischen Bann ihre jungen Jahre
fielen, hat sie sich vor allem Mozart und Schubert
erkoren, denen sie zwei gediegene, eigenwillige
Monographien widmete. Nun aber sind
gerade Mozart und Schubert zwei Musikerpersönlichkeiten
, die vom Musikalischen her ohne
weiteres, in ihrem Menschlichen indessen äußerst
schwierig zu erfassen und zum guten Teil rätselhaft
sind. Daß Annette Kolbs Deutungsversuche
hier vielerlei Erhellungen gebracht haben, weit
über die Erkenntnisse der reinen Musikwissenschaft
hinaus, sollte ihr nie vergessen werden.
Unlängst fand ein junger amerikanischer Komponist
, ein Enkel Rene Schickeies, in Rom die
englische Ausgabe von Annettes „Mozart" und
war so hingerissen von dieser Darstellung und
Deutung, daß er einen ganzen Tag durch Rom
lief, hier auf einer Kirchentreppe, dort auf
einem Trümmerstück sich ausruhend und lesend,
völlig verzaubert und der Gegenwart abhanden
gekommen...
Aber zurück zu Annette. Ihre jungen Jahre
haben in dem autobiographischen Roman „Die
Schaukel", der 1934 erschien, Gestalt gewonnen,
einem Buche, das wie nur wenige andere uns
erkennen läßt, was mit der Zeit vor 1914 zu-
grundgerichtet worden ist. Die mit zwei Heimatländern
, Deutschland und Frankreich, und mit
zwei Sprachen Gesegnete, wuchs in einer kulturgesättigten
, gesellschaftlich mannigfach gestuften
Atmosphäre zu einer Künstlerin und Kosmo-
politin in jenem schönen Sinne heran, der das
bessere Europa vor dem ersten Weltkrieg auszeichnete
. Wie sie, blutmäßig, Deutschland und
Frankreich in sich trug, ist sie lebenslang um die
politische und geistig-kulturelle Annäherung der
beiden Völker bemüht gewesen. Sie hat früh
erkannt, daß es „an der Zeit sei, nunmehr statt
der Territorien die Qualitäten unserer Nachbarn
zu erobern". Diesem Gedanken galt ihr politisches
Wirken, über das man Erstaunliches aus
ihrem letzten Buch „Blätter in den Wind" erfährt
, vor allem aus dem umfangreichen, in
einem schwebenden, makellosen Französisch geschriebenen
Bericht über ihre Gespräche mit dem
französischen Staatsmann Camille Barrere.
Hatte Annette Kolb in den halkyonischen
Jahren vor 1914 mit ihrem Roman „Das Exemplar
" (1913), einer bezaubernden, unveraltbaren
Liebesgeschichte voll heiterer Melancholie und
Selbstironie, sich Ansehen als Dichterin errungen
, so trat sie während des Krieges unerschrok-
ken für Menschlichkeit und Frieden ein; ihre
„Briefe einer Deutsch-Französin" bezeugen das.
Ein bezeichnender Zug: als im Frühjahr 1917 bei
einer Frontverkürzung im Aisne-Abschnitt viele
Quadratkilometer französischen Landes aus
„militärischen Notwendigkeiten" systematisch
verwüstet wurden, schrieb sie in gerechter
Empörung, daß militärische Notwendigkeiten
hinter moralischen Notwendigkeiten zurückzutreten
hätten. Schon damals erregte das Befremden
, und ich fürchte, daß eine solche These heute
weitgehend auf völliges Unverständnis stößt.
Aber Annette Kolb befindet sich mit dieser Einstellung
in bester militärischer Gesellschaft.
Denn während des Spanischen Erbfolgekrieges,
also kurz nach 1700, schrieb Prinz Eugen an seinen
Gegner, den Marschall Villars, etwa folgendes
: „Herr Marschall, dieser Tage sind durch
Ihre Truppen auf dem Felde arbeitende Bauern
beschossen worden. Wenn in solcherlei barbarischer
Kriegführung nicht auf der Stelle ein Wandel
eintritt, sollen Sie mich kennenlernen!" Man
vergleiche das mit den militärischen Gepflogenheiten
unserer aufgeklärten Zeit!
Nach dem Kriege hat Annette Kolb in Büchern
und Aufsätzen, vor allem in ihrem wissenden
Buch über Aristide Briand, den Gedanken
der deutsch-französischen Aussöhnung, der europäischen
Einigung, des Zusammenschlusses wider
die Ungeistigen, die „Boches" aller Nationalitäten
, die Untermenschen aller Klassen und Parteien
verfochten. Als 1933 der „Nero im Jägerhemd
" das von ihr und ihresgleichen Angestrebte
zu zerstören begann, hat sie, von Manfred Hausmann
gewarnt, Deutschland verlassen.
Annette Kolbs politischer Kampf und politische
Tätigkeit haben sich nicht in hochherzigen
Gedanken und klugen Essays erschöpft. Sie hat,
ohne offiziellen Auftrag, ohne Mission und Amt,
einzig getrieben vom Gefühl der Verantwortung
und auf Grund ihrer Einblicke, in den diplomatischen
Zirkeln von Berlin, Paris, London und
Rom zu wirken und zu vermitteln versucht.
Annette Kolb hat stets an die Einsicht, an die
Vernunft, an die Gutwilligkeit, an das Herz appelliert
. Auch ein solcher Appell zeitigt Wirkungen:
kleine, den Einzelmenschen betreffende, und also,,
vom Einzelmenschen aus, der ja vielleicht einmal
an die richtige, entscheidende Stelle gelangen
könnte, unter einer glücklichen Konstellation
auch große. Seien wir stolz, daß es jemanden wie
Annette Kolb gibt — zumal da sie alles, was sie
geschrieben und getan hat, zugleich zart und
streng unternahm, mit einer schönen, seltenen.
Verschwisterung von Anmut und Gewissen.
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