http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1960-10/0010
nimmt sich vor, mit um so größerer Liebe und
Ausdauer dem benachteiligten Wesen zu helfen.
Ich nahm den Kampf auf, legte Hand an die
Natur, und in der Folge verbreiterte sich dieses
aus dem Nichts geholte, beinahe erlogene Glück
zur Quelle und zum Boden von etwas Neuem,
Unbekanntem. Sofort schon schoß es seine merkwürdig
dunklen, aber zielsicheren und zündenden
Strahlen in mich.
Als Fritz in seinem Siegergefühl laut verkündete
, er dünge und pflege seinen Baum, damit
er im Herbst einen „ganzen Haufen" Äpfel
ernten könne, auch sogleich im Gerätekasten
einen Schöpfer holte und vom nahen Dunghaufen
Mistlache um den Baum verteilte, schlug sein
Tun wie ein zündender Blitz in meine Bereitschaft
. Ich loderte.
Nach ihm verschüttete auch ich mit dem
langen Gerät die pflanzennährende Flüssigkeit
um den Krüppel, und dann holte ich alle Werkzeuge
herbei, die zur Baumpflege gehören: Säge,
Kratzeisen, Drahtbürste, Schere. Sorgfältig, unermüdlich
und unablenkbar entfernte ich von
den krummen, vernarbten und halbdürren Zweiglein
alles Störende, Schädliche, wie Flechten,
Aststümpfe, Wasserschosse, sägte die Nebenstämme
ab und opferte tagelang meine Freizeit,
bis er einem Baum glich. Armselig stand er da,
ein magerer, bleicher Genesender nach einer
schweren Operation, noch ohne Vertrauen bei
meinen kritischen Geschwistern, die mich dann
und wann ob meines Eifers verulkten. Nun, da
alle Arbeit getan, blieben diese ganz weg; vielleicht
hatten sie die Angelegenheit mit den eigenen
Bäumen nie recht ernst genommen. Ich? Den
ganzen Sommer über und auch noch nach dem
Herbst, in dem er zu meiner Enttäuschung nicht
einen Apfel gebracht hatte — ich wußte damals
hoch nicht, daß die Fruchtknospen schon vor
dem Winter vorgebildet werden, der Baum
also in diesem Jahr unmöglich Früchte zeitigen
konnte — verkrallte sich meine Hoffnung in sein
Gezweige. Ich betreute ihn und sah das an ihm,
was ich erwartete.
Doch änderte sich meine Haltung zum Baum
stillschweigend. Die Tatsache, daß er meine
Mühe im Herbst nicht mit Äpfeln, nicht mit
einem einzigen, belohnte, hatte mich enttäuscht.
Ich hatte sehr mit einem Erfolg, mit einem
Triumph des Fleißes über die Gleichgültigkeit
gerechnet. Nichts war aus diesen Erwartungen
geworden. So leicht ließ sich ein Schaden nicht
gutmachen, die Natur nicht bezwingen! So groß
war mein Können nicht. Doch während dieser
Einsichten quoll eine neue, unbekannte und ungewohnte
, weit stärkere Kraft in mir auf. „Ich
pflege den Baum noch ein Jahr lang", sagte ich
mir, und wo zuvor Verzagtheit, Mißmut genistet
hatten, erwuchs mir Kraft, Zuversicht, Sicherheit
. Geradezu Licht und Wärme erfüllten mich.
Ich spürte jetzt auch, unbewußt und ohne mir
darüber Rechenschaft oder Aufschluß geben zu
können, daß ich meine Unternehmungen nicht
mehr des Obstes oder um der Ebenbürtigkeit mit
meinen Geschwistern wegen, ja nicht einmal aus
Mitleid mit dem Krüppel, sondern aus einem
neuen seetiefen, verschwommenen Grund ausführen
wollte, mußte.
Wollte ich, der ich wegen meiner körperlichen
und innern Zartheit unter den Bauersleuten bei
landwirtschaftlichen Arbeiten weniger Ansehen
hatte, durch eine einmalige, rustikale Tat Geltung
erringen? Bot es Befriedigung und Genugtuung
, sich selbst ein Ziel zu stecken, unablässig
gegen die tollsten Anfechtungen an ihm festzuhalten
, an ihm zu wachsen und seelische Früchte
zu gewinnen? Sah ich tief in dem Lottergesellen
und Tunichtgut ein zweites, besseres Wesen, das
ich ansprechen und fördern wollte, so wie ich,
der unausgebildete und unwissende Bauernbub,
schon damals in mir untrügerisch, in weiter Entfernung
, ein anderes Wesen, ein Mahn- und
Spukbild, glitzern sah? Trägt nicht jeder Mensch
eine ungewisse Vorstellung, ein Inbild, einen
Hausgötzen in sich, nach dem er strebt? Erhoffte
ich etwas Außergewöhnliches, ein Wunder? Alle
Kinder warten auf Wunder auch dann, wenn
man ihnen die Märchen und die Märchenwunder
gutgemeinter Täuschung zerstört hat.
Ich verrichtete meine Arbeiten ohne Berechnung
, ohne Ziel und dennoch eifrig, unbeirrt und
inbrünstig wie einen Gottesdienst. Eine Flamme
brannte in meinem Herzen, und ich hoffte, daß
sie zu einem unbekannten Prächtigen aufstrahlen
möge. Das Licht brannte so klar, daß mir in diesem
Jahr der herrliche und geliebte Winter, der
im Schwarzwald besonders lang, hart und erlebnisreich
ist, allzu bedrohlich und herb vorkam
und ich ihn am liebsten nach wenigen Wochen
beendet gesehen hätte, nur weil er meinen Baum
mit Eis und Schnee, Ruhe und Untätigkeit umklammerte
. Meine Geduld wurde lange Zeit auf
die Folter gespannt. Um die Fasnachtszeit sah
ich, wie ein Bauer in einem auf einen Schlitten
geketteten Faß die Jauche auf die Felder führte.
Alsbald holte ich unsern Schöpfer und düngte
gleicherweise meinen Baum. Der knietiefe Schnee
hielt mich so wenig ab wie Ulk und Lachen meiner
Geschwister und Kameraden. Die Zeit des
Zuschauens näherte sich ihrem Ende, und ich
untersuchte an den Bäumen des Waldes, wie der
Bast unter den Rinden ergrünte und wie die
Knospen schwollen.
Im Frühling trat das „Wunder" ein. Mit rosaroten
, beglückend reinen, großen Blüten war das
Astreich meines Lieblings gedrängt voll beladen.
Die kugelige Krone schwebte über der grünenden
Wiese im milden Maienwind wie eine son-
nenrote Morgenwolke am blauen Himmel. Wir
Geschwister waren uns darin einig, daß kein
Baum ein so schönes, zartes, reiches und glänzendes
Brautkleid trage wie er. Sogar Vorübergehende
blieben stehen und betrachteten ihn. Ich
war glücklich und erwartete neue Wunder.
Bald trieb er große, dunkelgrüne Blätter und
kräftige, glattrindige Schosse, fest und gerade
wie Haselruten. Zum Teil schnitt ich sie zurück
oder bog und leitete sie zu einer regelmäßigen
Krone zurecht, wie ich das beim Baumwart des
Dorfes beobachtete. Kaum waren die jungen
Äpfel herangeschwollen, schmeckten sie uns
schon vortrefflich, und Kampf, Tausch und Ulk
8
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1960-10/0010