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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1960-10/0011
begannen. Die vielen mittelgroßen, gelbroten,
glattschaligen und würzigen Früchte, die er im
Herbst zu meiner Freude trug, hütete und verwaltete
ich wie der Lindwurm den Nibelungenhort
. Oh, man spielte mir manchen Streich! Nach
der Zeit des Wartens und des innern, stillen
Wachsens kam jetzt die Zeit des Erntens: der
Äpfel vom Baum und der Früchte von meinem
innern Astreich.

Ich gestehe, daß mich der äußerliche Erfolg
glücklich machte. Ich war Eigentümer eines wertvollen
Baumes, hatte aus einem Lumpenkerl ein
hervorragendes Glied der Gesellschaft gemodelt.
Aber etwas anderes, Verborgenes, bewegte mich
mehr als dieser wirtschaftliche, züchterische Erfolg
. Ein Kind, diese wüchsige, zukunftsgläubige
Menschenpflanze, rechnet nie nur mit dem
Nutzen.

Als ich einmal im kleinen Geschwisterkreis
vorsichtig das Gespräch auf dieses „andere"
brachte, ließen sie mich kaum ausreden und riefen
, ich hätte meinen Erfolg dem Fleiß und
nichts anderm zu verdanken. Da sei nichts dahinter
gewesen. Es sei doch offensichtlich, daß,
wenn man einen vernachlässigten Baum pflege,
er tragen müsse; das hätte jeder gekonnt. Ich
schwieg. Ich war viel zu ungeschickt, mich zu
verteidigen.

Aber: Etwa anderthalb Jahr lang, das sind
ein halbes Tausend Tage, hatte ich kleiner Knabe
der Entwicklung und Veränderung, eines Baumes
zugesehen, hatte sie mit eigenen Händen,
mit Verstand und Willen ganz aus dem Innern
heraus, ohne Anleitung und Auftrag, ohne Aussicht
auf Anerkennung oder Lob, auch ohne von
einer Strafe angetrieben zu sein, geleitet. Das
war viel! Ich erinnere mich deutlich der mühevollen
Arbeit des Abklaubens der Flechten von
den ungezählten, verkrümmten, vernarbten, halb
dürren Zweigen. Und wieviel Erforschen, Versuchen
, Nachfragen und Nachlesen kostete es
mich, in Erfahrung zu bringen, was ein Wasserschoß
ist, wie weit man es einkürzen, wann man
es abschneiden oder stehenlassen muß! Und das
Durchhalten, das Widerstehen den andern Verlockungen
, das Ertragen der Zweifel, der Schmähungen
, das Auf-die-Zähne-Beißen! Mit Zuversicht
opferte ich meinem Hausgötzen.

Es war eine Zeit des Verwachsens mit einem
unbekannten, stillen, taubstummblinden, aber
doch empfindsamen und antwortenden Lebewesen
. Ich beobachtete die Natur bei den Wechselfällen
der Witterung und der Jahreszeiten,
wühlte in ihren Gesetzen und Geheimnissen. Damit
parallel lief ein eigenes Aufbrechen, Reinigen
, Saften, Strecken, Blühen, Fruchten. Ich
wuchs, ich erstarkte, mein Können mehrte sich.
Was einst Zufall oder Laune, gewissermaßen ein
dürrer, fragwürdiger, unfruchtbarer Wasserschoß
meines vier Jahre älteren Bruders gewesen war,
der indessen die ganze Sache nach dem ersten
Herbst, in dem sein Baum nicht mehr Äpfel als
sonst hervorgebracht hatte, fallenließ, hatte sich
in mir zu einem solchen jungen, gesunden, fruchtenden
Baum entwickelt. Ich fühlte die triebige
Pflanze täglich in mir. Die bunten Früchte, die

in ihrem grünen Laube hingen, die nicht mit den
Händen zu greifen, mit den Augen zu sehen, mit
den Zähnen zu beißen sind und die sich nennen:
Ausdauer, Hingabe, Liebe, Glauben, Sehnsucht,
Standpunkt fassen, Ziel erkennen, diese Früchte
hätte ich noch lieber als die Äpfel im Korb einem
berufenen Erwachsenen, ja meinem Vater gezeigt
, nachdem die Geschwister nichts von ihnen
hören wollten.

In dieser Absicht sorgte ich dafür, daß meine
Äpfel in die Küche und auf den Tisch kamen.
An unserm großen, eichenen Eßtisch im Herrgottswinkel
der Stube aßen immer viele Menschen
, Knechte, Mägde, Verwandte, Aushelfer,
und obenan thronte der Vater. Gespräche über
die Welt, ihr Getriebe und den Sand darin, wurden
laut und eifrig geführt. Dort würde man
über die neuen Äpfel, vielleicht auch über mein
inneres Verhalten sprechen.

So saß ich denn still und aufmerksam auf
dem untersten Platz der Kinderbank an der
Wand in der Ecke unter dem Kreuz und sah zu,
wie man meine Äpfel aß, die einen, indem sie
sie ungeschält zum Munde führten, abbissen und
zerkauten, die andern, indem sie sie in Schnitze
zerteilten, schälten, das Kerngehäuse heraus-
schnipfelten, und hörte dem Hinundher, dem
Wissen und Besserwissen, dem Auftrumpfen und
Uberstechen, dem Unterliegen und Siegen zu. Ich
wagte nicht, das Gespräch auf die rotgelben
Früchte oder gar auf mein einmaliges Tun zu
bringen.

Endlich blieb das Roulettrad im Glücksspiel
des Lebens mit der gewinnenden Zahl vor mir
stehen. Ein beliebter, uns verwandter Knecht
gestand ganz unvermittelt, die rotgelben Äpfel
seien doch die besten von allen und bekömmlicher
als selbst Speck und Schweizer Käse. Weil
das Gespräch auf anderes überzuspringen drohte,
rief ich frischweg dazwischen:

„Die sind von dem kleinen Baum zwischen
Hausmatt und Wagenplatz; er trägt .dieses Jahr
zum erstenmal!"

Die wissenden Geschwister schauten mich alle
groß und nicht ungnädig an, die Erwachsenen
dagegen kaum, und der Vater redete mit seinem
Nachbarn unbeirrt weiter. Schon stieß mich
eine Schwester unter dem Tisch mit dem Fuß an
und lachte mich aus: „Oho, der Vater merkt
nichts!"

Da warf ich schnell dazwischen: „Ich hab den
Baum hergerichtet!"

Aber niemand achtete des Hilferufes; er tönte
wohl auch nur zart und verhalten. Ja, Fritz
neben mir flüsterte spitz: „Glaubst du vielleicht,
du bekommst etwas für deine Äpfel?"

Ach, so war die Welt! So!

Ein Vorhang fiel; ein Spiel war aus. Ich aß
nur langsam weiter und beobachtete nicht mehr,
wie meine Äpfel gegessen wurden: Sie waren
kein Symbol, kein Genuß mehr, nur noch Nahrungsmittel
. Langsam begann ich, hinter den
Vorhang zu lauschen. Das Räderwerk der Unterhaltung
lief knarrend weiter. Das Sandkorn

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