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schlägt: unsere lieben alten Kalender bringen
stets eine Rubrik, in der festgestellt wird das
wievielte Jahr nun beginnt nach bestimmten
Ereignissen und zwar: nach der Schöpfung der
Welt, nach der Erbauung Roms, dem Tode Karls
des Großen, der Erfindung der Buchdruckerkunst
, der Einführung der Kartoffel in Europa,
und so weiter. Dies läßt sich beliebig als Gesellschaftsspiel
fortführen bis das erste Prosit Neujahr
des Nachbarn und der infernalische Höhepunkt
des Knallfroschkonzerts uns untrüglich
anzeigt, daß ein neues Jahr begonnen hat.
Johannes Helm:
Zum 100. Geburtstag des Dichters
Am 15. Juli 1904 ging in Badenweiler das
Leben eines Menschen zu Ende, der damals in
der Welt des Geistes in hohem Ansehen stand
und dessen Bedeutung bis auf den heutigen Tag
nicht geringer geworden ist. Es ist der russische
Dichter Anton Pawlowitsch Tschechow. Mit großem
Gepränge wurde in diesem Jahr in Rußland
sein 100. Geburtstag begangen, den aber auch die
westliche Welt nicht übersehen hat. Sein Sterbeort
möchte mit diesen Zeilen einen Beitrag dazu
leisten, daß die Erinnerung an ihn hier wach
bleibt; denn der äußeren Zeichen sind es wenige,
die in Badenweiler an ihn gemahnen, genau
genommen nur ein einziges: eine kleine, weiße
Gedenktafel am Park-Hotel, wo Tschechow im
Sommer 1904 entschlief.
Vom Schwarzen Meer bis zum Schwarzwald
spannt sich der Lebensbogen des großen Schriftstellers
, denn seine Wiege stand in Taganrog am
Asowschen Meer. Dort erblickte er am 29. Januar
1860 das Licht der Welt. Noch steht das kleine
Häuschen hinter Bäumen versteckt, das die Bürger
von Taganrog trotz seiner Unscheinbarkeit
als das berühmteste Gebäude ihrer Stadt bezeichnen
. Hier verbrachte der junge Anton Pawlowitsch
seine (nach eigenem Urteil) recht freudlose
Jugend, die neben dem Besuch des Gymnasiums
mit Arbeit im elterlichen Kramladen, mit
Ministrantendienst und Kirchenchorproben ausgefüllt
war. 1879 wird der Schulbesuch durch das
Abitur abgeschlossen, und Tschechow folgt seinen
Eltern und Geschwistern nach Moskau. Der
Vater hatte sein Geschäft aufgeben müssen. In
der Hauptstadt widmet sich der strebsame Anton
Tschechow dem Studium der Medizin, das er
1884 mit dem Erwerb des ärztlichen Diploms
abschließt. Da das Studium ohne einen eigenen
finanziellen Beitrag nicht hätte durchgestanden
werden können, beginnt Tschechow in diesen
Jahren bereits mit schriftstellerischen Arbeiten.
Es sind kleine Erzählungen, die er für mehrere
Witzblätter keines allzu hohen Niveaus verfaßt.
Er mißt seinen Erzeugnissen zunächst keinen
besonderen Wert zu. In seinen Briefen gibt er
der Verwunderung darüber Ausdruck, wie solch
kleine komische Geschichten einem gewissen
Amerikaner, der unter dem Namen Mark Twain
schreibt, Geld und Ruhm einbringen könen. Was
er aber selbst schreibt, bringt den Beweis dafür,
daß das doch möglich ist. Von der Oberfläche der
leichten Unterhaltungsliteratur dringt Tschechow,
geleitet von einem Reifungsprozeß, wie er in der
russischen Literatur nur in wenigen Beispielen
vorzufinden ist, in die Tiefe vor. Und während
seine Leser es zunächst gar nicht bemerken,
wächst da der Bahnbrecher der „Kurzgeschichte4*
heran, ein Werdegang, wie < er etwa in einem
Brief an Maxim Gorkis (1935) zum Ausdruck
kommt: „Ich entsinne mich des saueren Lächelns
der vorrevolutionären Spießbürger, als sie fühlten
, daß der Mensch, der ihnen nur als lustiger
Spaßmacher erschienen war (gemeint ist Tschechow
), begann, mit weicher Hand, aber unbarmherzig
die Niedertracht und Dummheit ihres
Lebens zu entblößen." Und an einer anderen
Stelle: „Keiner hat die Tragik der kleinen Begebenheiten
des. Lebens deutlicher und feinfühliger
erfaßt als Anton Pawlowitsch, niemand vor
ihm hat es verstanden, den Menschen mit so
schonungsloser Wahrhaftigkeit das schändliche
und trostlose Bild ihres Lebens im trüben Chaos
des Spießbürgertums vor Augen zu führen."
Tschechow schreibt zunächst unter verschiedenen
Pseudonymen, am häufigsten unter dem
Spitznamen, den ihm sein Religionslehrer in
Taganrog beigelegt hatte: Antoscha Tschechonte.
Nach Beendigimg des Studiums bleibt er der
Schriftstellerei treu, obwohl er mehrfach erfahren
muß, wie unsicher dieses Brot ist. Eine ärztliche
Praxis hat er nie im größeren Umfang betrieben
, gibt aber stets zu, daß er dem Arztberuf
vieles zu verdanken habe: seine Beobachtungsfähigkeit
, seine Genauigkeit in „klinischen"
Analysen, schließlich seine Art, die Symptome
menschlicher Schwächen zu belauschen. Er selbst
schreibt über seine Arbeitsweise: „Ich schreibe,
wie der Vogel singt. Ich setze mich hin und
schreibe. Ich brauche nicht nachzudenken, es
geht von selbst. Ich kann schreiben, wenn ich
will. Eine Szene, eine Skizze hinzuwerfen, verursacht
mir gar keine Mühe. Ich bin wie ein
junges Füllen, das, freigelassen, wild herumjagt."
Seine Freunde bewundern ihn oft, wenn er, etwa
beim Essen oder in lustiger Gesellschaft, aufsteht
, ein paarmal hin und her läuft, eine Zigarette
raucht, kurz das Zimmer verläßt und nach
wenigen Minuten mit der fertigen Erzählung
zurückkommt. Diese unmittelbare Schöpfungskraft
bleibt ihm erhalten bis in die letzten Stunden
seines Lebens.
Auf den talentierten Verfasser humorgeladener
Kurzgeschichten wird bald der Schriftsteller
Grigorowitsch aufmerksam, der ihn bittet, seine
Fähigkeiten nicht an kleinen Dingen zu vergeuden
, sondern sich ernster literarischer Arbeit zu
widmen. Aber Tschechow kann seinem Wesen
nicht untreu werden. Dennoch empfiehlt ihn
Grigorowitsch an den Herausgeber der großen
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