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und las mit leiser Stimme ihre alemannischen Verse. Die
Worte pochten mit ihrer zeitlosen Frage woher, warum?
wohin? an das Tor des ewigen Geheimnisses. Es klang
oft wie die mystische Beschwörung einer Priesterin; das
graue Haar unter der Markgräfler Kappe über dem
durchgeistigten Gesicht wurde fast zur Aureole. Aus den
fremden Menschen an den Tischen wurden Brüder und
Schwestern. Sie war eine alemannische Sibylle, die das
Buch des Lebens aus den Händen der Gottheit empfängt.
Ein andermal war es auf der Dorfstraße in Hertingen am
Hebeltag. Lina Kromer kam auf mich zu, und was sie
mit ihrer leisen Stimme sagte, war wie die Fortsetzung
eines Gespräches, das wir im Unbewußten miteinander
geführt hatten.
„An Bruder Namenlos" nennt sich der Band alemannischer
Gedichte, der 1958 im Rombach Verlag erschienen
war. Es ist die alemannische Sprache ihrer Heimat
Obereggenen. Sie ist kantiger und schollenhafter als die
Sprache Hebels. Sie ist frei von den sich überstürzenden
„Ii" der vielen, ach zu vielen alemannischen Verse-
schmieden. Als ich einmal Burte gelegentlich eines Besuches
bei mir bat, mir für die „Markgrafschaft" eine
alemannische Meisterprosa zu schreiben, grollte er:
„I schrieb nimme alemannisch, 's schriebe viel z'viel!"
Lina Kromers Sprache ist anders. Ihre Verse sind nicht
konstruiert um des Reimes willen, sondern der Reim
findet sich in die Kraft des Gedankens. Ewegi Froge.
Worum git's Mensche, die empfinde,
was guet un schlecht — un sin nit frei?
Worum git's Chettene, die binde?
Worum, worum? — Wer hört mi Schrei?
I bäum mi uf in schwarze Nächte,
verzwiflet, wenn kei Antwort chunnt,
un darf nit mitem Meischter rechte,
aß er im Chnecht kei Iblick gunnt,"
Dies ist das Thema, um das ihr Denken kreist, die
Frage, für die sie eine Antwort sucht. Wie erschütternd
sind die Verse aus dem Gedicht „An Vatter". Sie arbeitet
allein im Rebberg. Da sieht sie die Schatten der Verstorbenen
:
„I gspür: Vo dene bini cho,
i gspür, aß die mi wieder nämme.
Ein luegt mi a — es würd mer wohl un weh —
mit sine Auge — ernste diefe.
Du bisch's, i ha kei Zwifel meh,
Vatter, hesch du mi ghört riefe?
Kei Antwort. — Numme Iis un lind
stricht durs herzschwer dunkel Schwige
vom Blaue her ne chüehle Wind,
un d'Imme düen, d'Heumüchli gige,
un 's goht, as wiene herbi Chlag
vo viele Stimme, viele Lüte.
„Fremd in dr Heimet", „Angst", „Suecher simmer alle-
wil", „Im Dal".
,,D' Wolke, die ziehn witer,
un näume goht e Wind!
Mi Heimetort, wo lit'r?
Wo heißt's: Gottwilche Chind!"
Daa gleiche Suchen nach Klarheit und Frieden in dem
großen Gedicht „Gsicht am Strom". Es legt sich beklemmend
auf die Brust. Es stößt uns aus unserer Sicherheit
in die tiefste Beunruhigung.
Da bahnt sich die Lösung an. Wir atmen freier:
„Schön isch dr Wald vor Dau un Dag,
wenn alli Amsle schlön,
e Fink probiert si Meischterschlag,
im Hochzitschleid dr Wißdornhag
un d' Maierisli stöhn."
Und später in einem anderen Gedicht:
„Wie schön, trotz allem Böse
dur Menschehaß un Strit,
uns sone Dag cha löse,
was dunkel in eim lit."
Nun führt Lina Kromer uns in der Gedichtfolge „ .. dr
Boge" den Weg von der Schöpfung über das verlorene
Paradies, den Turmbau und die Sintflut, über den Ruf
der Propheten hin zum Welterlöser.
So endet der Gedichtband mit dem Gebet und den
Zeilen:
„Di Größi schreckt mi nümmi,
i gib mi endlich dri:
vo dir — zue dir — dur alles,
un ganz un gar halt di."
Lina Kromer „An Bruder Namenlos", Alemannische
Gedichte. Verlag Rombach & Co., Freiburg i. Br. 1958,
104 Seiten, 5,80 DM.
Man sollte nicht glauben, daß jemand, dem sich das
Wort in alemannischer Sprache so stark fügt, Ebenbürtiges
in der hochdeutschen Sprache zu sagen habe,
ohne daß ein mundartlicher Akzent mit anklinge.
So legte im vergangenen Spät jähr Lina Kromer uns
einen ebenfalls im Verlag Rombach erschienenen Band
hochdeutscher Gedichte vor: „ ... ein Mensch, und nur
ein Mensch zu sein".
Auch in diesen Gedichten geht. Lina Kromer den
gleichen Weg: aus der Verlassenheit und Einsamkeit zu
Gott: „Du bist! Du bist!" Lina Kromers Lyrik ist abstraktes
Ringen um die letzte Antwort aller Fragen. Sie
sind am besten, wo die Einheit des dichterischen Bildes
gewahrt ist und die Dichterin den Leser im Mitfühlen
und Mitschöpfen die von ihr unausgesprochenen Fragen
selbst finden läßt wie die Antwort, die durch das Transparent
der Worte hindurchleuchtet. Ich möchte hier auf
das Gedicht „November" hinweisen. Es ist eines der
Gedichte, in dem in schlichter Aussage eine vollendete
Einheit in Form, Sprache und Bild erreicht ist. Keine
sich überstürzende Fülle von Sätzen und Bildern. Der
Satz „Verwandelt ist die ganze Welt" drückt besser als
ein seitenlanges Gedicht die Situation aus. Kein Wort ist
zuviel: „Die Nacht hat über uns Gewalt", damit ist alles
gesagt. Ein gleiches gilt für das Gedicht „Am Abend".
Man kann nach den guten Bildern des Abends, die alle
in eine Einheit münden, nicht schöner sein Wesen ausdrücken
als mit den Worten:
Nun löst sich, was bedrücket
des Tages Last und Glut,
das Menschenherz, entrücket,
an Gottes Herzen ruht.
Auch die Gedichte „Ton in der Nacht" oder „Im
Herbst" sind voll tiefster beglückender Poesie, was manchen
der langen abstrakten Gedichten oft quälend mangelt
. Der Band schließt mit den starken Versen an „Gott".
Beide Bände sind das Werk einer echten Dichterin.
Mensch und Werk sind in einer Harmonie, am stärksten,
wo sie sich in der Urtümlichkeit der alemannischen
Sprache ausdrückt. Ihr menschliches Wesen ist Güte, ihr
dichterisches Wesen höchste Verantwortung. Was die
flatterhafte Zeit nicht ausspricht und nicht durchleidet,
durchleidet sie und spricht es für uns aus. Dies gibt ihr
auch die Berechtigung, Verse in dieser Sammlung aufzunehmen
, die immer wieder das gleiche wiederholen in
fast gleicher Form. Die erwähnten Gedichte sind eine
kleine Auswahl derer, die man zum dichterischen Gut
unseres Volkes zählen darf.
Lina Kromer: „ ... ein Mensch, und nur ein Mensch zu
sein____" Verlag Rombach & Co., Freiburg i. Br. 1960,
104 Seiten, 5,80 DM.
Konstantin Schäfer
»Die Markgrafschaft«
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