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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1961-10/0014
Helmut Nübling, Brombach:

iMftelfaat

Der Steilhang unterhalb des Hügelrückens ist
ein Dorado für Disteln. Vor Jahren hatte man
ihn abgeholzt — Kahlhieb — und es der Natur
überlassen, die Blöße wieder aufzuforsten. Aber
der Wald nimmt sich Zeit, groß zu werden.
Mittlerweile kam das bunte und schnellwüchsige
Kleinzeug rascher obenauf, das zwischen dem
Unterholz wuchert: hartes Rispengras, Glockenblumen
, Dosten mit blaßvioletten Dolden, Kolonien
von Goldrute mit gelbleuchtenden Rispen,
vor allem aber Disteln. Sie beherrschen das Feld,
ein Heer von Disteln, dicht gedrängt.

Im Halbdunkel der Buchen, Eichen, Eschen
und Nadelbäume hatten sie früher nicht aufkommen
können; aber in der sonnigen Lichtung
schlugen sie schnell Wurzel, schössen auf und
bedrängen jetzt den aufkeimenden Wald.

Ein paar Geißen, die am Wegrand Laub naschen
, meiden sorgfältig und gewitzigt die stachligen
Distelblätter; nur ein heuriges Zicklein
stößt sein vorwitziges Näslein daran und macht
dann verblüfft und entrüstet einen steilen Bocksprung
.

Wenn der Westwind im August an dem Hang
hinauffährt, dann klirrt und klappert es in den
sparrigen Stengeln, wie wenn Gewaffnete sich
rühren, und tausend Köpfe mit fahlgelben Helm-
büschen wippen hin und her. Mit beiden Händen
greift der Wind hinein in diese Schöpfe und
zaust sie, daß die Federn stieben. Ein winziges
Körnchen Leben hängt an jedem Flaumfederchen
. Die Disteln schicken ihre Kinder auf die
Reise, über die Flächen der Erde, in neues, unbesetztes
Erdreich. Auf des Windes Rücken reiten
sie hoch. Jeden Wimperschlag startet ein
Dutzend der winzigen Flugzeuge, Stunde um
Stunde schweben sie lautlos heran und vorbei,
tagelang, nächtelang, wochenlang, eine endlose
Staffel, über die trockene Erde des Spätsommers.
Wie ein Rollfeld liegt die breite Bergwiese über
der oberen Kante der Blöße. Viele kommen hier
nicht hoch, verfangen sich im Gras. Sie sind
verloren; denn hier ist jedes Fleckchen Erde
schon in Besitz genommen. Die meisten springen
höher an und jagen in den Wald hinein; auch sie
haben keine Aussicht zu leben unter dem Düster
des Laubdaches. Nur eine Minderheit von Auserwählten
kommt in den Aufwind, der sie erfaßt
und hochwirbelt, hoch über die Baumwipfel. Es
ist, als ob sie jauchzten, wie sie über den Wald
hinstürmen, dem hügeligen Ackerland zu, das
sich dahinter weithin dehnt, wo sie sanft hinabtaumeln
und sich verhäkeln in den Schrunden
des gastlichen Bodens, da und dort, wo gerade
der launische Wind sie fallen läßt.

Nur ein kleiner Bruchteil ist's, der, vom
blinden Zufall getragen, neuer Lebensentfaltung
entgegeneilt; aber es sind genug, daß der
Schöpfungsgedanke Distel im mitleidlosen Daseinskampf
nicht ausgelöscht wird. „Allzuviele
sind's", seufzt der Bauersmann, wenn er sie im
Frühjahr zwischen seiner Saat aufgehen sieht.

.,Der böse Feind säte wieder mit vollen Händen
Unkraut in meinen Weizen".

Jeder Landwirt kommt bei seinen Nachbarn
in schlimmen Leumund, wenn er Acker oder
Garten verunkrauten und die Disteln so hochkommen
läßt, daß sie „samen". In stillem Ubereinkommen
wehrt man gemeinsam dem „bösen
Feind". Aber in der Waldblöße hat niemand
Disteln gestochen, weil sie keinem gehört. Keiner
mähte sie ab, bevor die Häupter Büsche
bekamen; das Stück gehört doch zur „Domäne".

Schlau, wie der böse Feind ist, erspähte er
die Lücke im Gemeinsinn und nützte die fatale
Gelegenheit: die Waldlichtung ward eine Brutstätte
des Unkrautes, dessen Keime sich jetzt so
beflügelt und emsig in die wohlbehüteten Kulturen
einnisten. Die Sämänner werden viel Zeit
brauchen, die böse Distelsaat von der guten
Frucht zu sondern.

Wie ein zorniges, höhnendes Zischen kommt
es aus dem Distelfeld an mein Ohr: „Allzu
menschlich lautet euer Urteil. Weil wir nicht in
euern Magen passen, noch auf eure Haut, drum
lästert ihr uns „Unkraut". Was eßbar ist, was
euch kleidet, das setzt ihr breit in die fette Mast.
Uns andere aber reißt ihr aus und verbannt uns
auf den dürren Rain. — Sind wir nicht ebenso
Gottes Geschöpfe?''

„Kratzdistel, wende ich ein, der Gottessohn
selbst nannte dich des bösen Feindes Unkraut,
und der Spruch eines großen Kirchenvaters ist
dein Urteil: „Alle Kreatur meinet den Menschen
". Du willst dich ihm nicht schmiegen? Wer
dem Menschen nützt, den darf er fördern; wer
ihn hemmt und ihm nichts ist, den darf er ausrotten
".

„Wer darf behaupten, ich sei ihm nichts?
Gottessohn hin, Kirchenvater her, Gottvater
gebot: „Dornen und Disteln soll dir der Acker
tragen". Und wäre es auch nur, um den Menschen
zu reizen. Betrachtest du nicht selbst mich
zuweilen und findest mich anziehend?"

„Es ist wahr, oft, wenn deine Häupter in
Purpurfarben prangen, wenn du mit deinen
Fiederblättern flügelst im Licht der Sommersonne
, wenn du gewappnet starrst von Spießen
und Dolchen, und dir alle gierigen Mäuler aus
dem Wege gehen, bleibe ich entzückt stehen:
„Was für ein schönes, tapferes Geschöpf!" Ich
staune, wie du das Wasser aus der Tiefe holst
und auf der ausgedörrten Halde dich erhältst;
und angesichts deiner kühnen und großzügigen
Kolonisation muß ich eben wieder bekennen:
„Mit welcher Weisheit und Tüchtigkeit hat der
Allmächtige dich verachtetes Gewächs begabt!"

„Du bestärkst mich, höre ich die Distel frohlocken
, „gehen wir dem Menschen zu Herzen,
was brauchen wir den Weg durch seine Gedärme,
um ihm etwas zu bedeuten? Wer weiß, was er
noch alles an uns finden wird? — Wir werden
uns behaupten. — Fliegt, Kinder, fliegt!"

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