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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1962-01/0011
Tiergarten Berlin

Der Zusammenstoß der
beiden Welten vollzog sich,
als der Freiherr vom Ahr-
Ufer zurückkam, wohin ihn
der Gang jedesmal führte,
und er in den lauschigen
Weg zur Trinkhalle hin einbiegen
wollte. Der Mister,
dem man im Kurhotel, wo
er wohnte, von dem merkwürdigen
Mann erzahlt hatte,
war ihm nachgegangen, sich
von dessen Gewohnheit zu
überzeugen. Da er festgestellt
hatte, in welchem Maße die
Vögel um den schwarzen Hut
kreisten — er habe, behauptete
er anderen Tages, zwanzig
Blaumeisen, dreißig Rotkehlchen
, fünfundzwanzig
Finken und ein Dutzend
Spatzen gezählt (Amerikaner
können bekanntlich alles!) —
ging er einen Seitenpfad, damit
er dem Vogelkönig, wie
er den Schreitenden nannte,
entgegentreten und den während
der Nacht geplanten
Uberfall ausführen könne.

Der Schreitende, dem die
Vögel folgten, war ahnungslos
und las: da schnellte der

Mister auf ihn zu, schwenkte den breiten Panama
, grüßte tief und rief gebrochen deutsch: er,
-dem zu New York nahe dem Hafen eine Baumwollfabrik
gehöre, bitte ihn, mit nach Amerika
zu fahren; er zahle ihm täglich zwanzig Dollar,
wenn er sich im City Hall Park als Vogelpastor
sehen lasse!

Der wiederum wollte zunächst dem plötzlichen
Gruß auch den seinen entbieten, unein-
gedenk des eingelegten Deckels in seinem Hute.
Doch er erschrak rechtzeitig, riß die schon erhobene
Hand zurück und wahrte so das lang
gehütete Geheimnis.

Nie wieder wird den Amerikaner ein verächtlicherer
Bück getroffen haben als der, mit
dem der Schreitende ihn von Kopf bis zu den
Füßen maß, ohne auch nur einen Augenblick zu
verhalten.

Nachmittags kam er nicht in den Park, und
da er auch den nächsten Tag ausblieb, wußte
man bald, daß der Diener mittags gleich nach
dem Zusammenstoß gegen eine beträchtliche
Summe einen Altenahrer Möbelfahrer bestellt,
ihn zu unbedingtem Stillschweigen verpflichtet
und dazu befohlen hatte, den Herrn Paul von
Spankeren, ihn und die Möbel der fünf Zimmer
nachts fortzufahren: das Ziel werde der Freiherr
ihm jenseits Neuenahr nennen, und wenn
er zurückkomme und sein Versprechen nicht
halte, werde ihn eine Strafe undenklicher Art
treffen; sein Herr stünde mit geheimen Mächten
in Verbindung und verfüge über Mittel, sie für
sich tätig sein zu lassen.

Adolf Strübe

Der Vierschrot hatte zum letzten Abend den
Obergärtner zu laden, und der erzählte später:
der Vogelpastor habe in dem Salon eine Flasche
Walporzheimer, einen gehaltvollen Ahrburgunder
, mit ihm getrunken, ihm dabei kleine, selbstverfaßte
und ergreifende Geschichten vom Irrgange
der europäischen Völker vorgelesen und
vor dem Abschied zu ihm gesagt: er ziehe fort,
weil der Amerikaner seine Welt gekränkt habe;
so warne er die Zeit, die im Begriffe sei, das
Geld anzubeten; Europa werde, wenn es geschehe
, trüb und verzagt sein gleich einem groß-
flügeligen Vogel, der mit seinen Schwingen die
Gitterstäbe eines goldenen Käfigs schlage; zur
Aristokratie eines Volkes gehöre, wer willens
sei, an sich selber die höchsten Maßstäbe zu
legen, und das habe er getan und werde dem
treu bleiben — auf seine Art! Bis heute weiß
man nicht, wohin der Vogelpastor zog und ob
er das Ende seines Jahrhunderts überlebte.

Mehr noch als die Vögel des Kurparks trauerten
die Armen von Neuenahr um ihn. Sie erzählten
nämlich erst Wochen nach seinem nächtlichen
Verschwinden, in welchem Maße er sie
durch den Valentin Stubsa, den ostpreußischen
Vierschrot, heimlich unterstützt habe; jeden letzten
Tag im Monat sei der nach einer Löste rundgegangen
und habe die neben den Namen verzeichneten
Summen ausgehändigt, nachdem er
vorher die Empfänger das Versprechen des
Schweigens habe erneuern lassen, und dieser
Besuch sei jedesmal ein Fest gewesen.

Aus Theodor Seidenfaden, „Die Jungfernbeidite" Anekdoten
Turmer Verlag, München

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