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durch das Stadttor in die österliche Helle treten. Wenn
der „Grüne Heinrich" das Bild der geträumten Vaterstadt
aufzeichnet, dann zieht sich ein romantischer Urwald aus
spitzen Türmen und Hochfirsten vom Fluß zum Berg
empor. Schmale Gassen, zusammengedrängtes Leben,
Fülle kleiner Form überragt von mächtigen Kirchen und
Türmen, das ist wohl heute noch der verbreitete Begriff
der mittelalterlichen Stadt. Es ist das Bi}d, das sich uns
bietet, wenn wir, gegen Abend das Schloß verlassend, auf
die Stadt Thun hinabblicken:
„In ein freundlich Städtchen tret ich ein,
Auf den Dächern liegt goldner Abendsonnenschein".
Jedoch das Bild ändert sich, sobald wir den Schloßberg
hinabsteigen und den Rathausplatz betreten. Die Enge
weitet sich, ein kräftig umschlossenes Geviert empfängt
uns. Wir sind in der kyburgischen Stadt des 13. Jahrhunderts
. Wir durchqueren sie und treten in die Obere
Hauptgasse. Nach engem Durchpaß weitet sich der Raum
nochmals; eine langgezogene, geschwungene, beidseits von
Hochtrottoirs begleitete Gasse, durch deren vertiefte Mitte
sich der fahrende Verkehr bewegt. Wir sind im zähringi-
schen Gassenmarkt des späten 12. Jahrhunderts.
Durch den Torbogen des Zeitglockenturms in Bern
betreten wir die Kramgasse; mit der Wucht eines alles-
durchdringenden Gedankens überfällt uns förmlich die
Erscheinung dieses mächtigen ununterbrochenen Gassenraums
. Oder wir betreten, von der Strehlgasse her, den
Zürcher Rennweg. Durchschreiten wir das Martinstor in
Freiburg im Breisgau oder den Schwarzen Turm in Rottweil
, umschließt uns die Hauptstraße der Gründungsstadt
in einem Breitenmaß, das uns nur noch in den großartigen
Prozessions- und Marktstraßen ottonischer Domstädte
begegnet. Auf einen Schlag ist jenes Bild der malerischen
Enge und des kleinmaßstäblichen Gewirrs wie ausgetilgt.
Der Raum dominiert. Energische Beschränkung auf einige
wenige, dafür klar und stark gefaßte Elemente führt zu
disziplinierter Formstrenge. Es herrscht das Grundgesetz
des Klassischen überhaupt: multum non multa. Nichts
mehr von chaotisch farbigem Gewühl; wir befinden uns
in Städten, die nicht jahrhunndertelang gewachsen und
verwachsen, sondern geplant und in einem Zug erbaut,
dann erst, über klar geometrischem Grundmaß, zur heutigen
Gestalt entwickelt sind. Wir stehen im Gespräch
mit einfachen, großen Formen voll Energie und Zucht.
Ein ganz anderer Begriff der mittelalterlichen Stadt tritt
ins Bewußtsein. Bei genauer Wahrnehmung der Elemente
verdichtet sich das Bild: Markt und Hauptachse als ein
Raum, Achsenkreuz, Kirche und öffentliche Gebäude in
die vier Viertel eingespannt, feste Uberbauungseinheit,
orthogonales Straßennetz und rechteckig gefaßtes, erst
später ins Vieleck oder Oval überführtes Weichbild; im
Ganzen dreidimensionale Erscheinung eines zugleich
strengen und flexiblen städtebaulichen Ideogramms von
bestechend knapper Eleganz. Wir befinden uns im Kreis
der zähringischen Gründungsstädte. Kein einziges Element
ist von ihren Planern und Erbauern in den hochmittelalterlichen
Städtebau neu eingefügt worden. Die Leistung
der Herzöge von Zähringen und ihrer unbekannten Werkmeister
ist hochbedeutend als eine der ganz wenigen
echten Synthesen in der Geschichte des europäischen
Städtebaus.
Wer sich die architektonische Leistung des Hochmittelalters
in die Erinnerung ruft, wird immer zuerst
Max Rieple:
Das Elsaß, das man, anknüpfend an den Titel
des weltberühmt gewordenen Buches der Äbtissin
Herrad von Landsberg „Garten der Köstlichkeiten
" nennen könnte, birgt neben ungezählten
landschaftlichen und städtebaulichen Kostbarkeiten
auch eine überraschend große Zahl bedeutender
Kirchenbauten. Sie gehören allen Stilen
an, angefangen mit dem romanischen Bau der
Kirche zu Ottmarsheim bis zu der von Le Cor-
busier erbauten und erst im Jahre 1955 fertiggestellten
Wallfahrtskirche von Ronchamp.
Kathedralen, Klosterkirchen, Rathäuser und Burgen vor
sich sehen, Umrisse von bezwingender geistiger und körperlicher
Gewalt. Dieses Gedankenbild ist unzureichend.
Zu den Einzelleistungen der Erbauer von Kirchen und
Burgen muß als dritte, ebenbürtige Schöpfung, die Gründungsstadt
des 12. und 13. Jahrhunderts treten. Ihr Geist
ist Geist der großen Kathedralen, Klöster und Wehrbauten
der Epoche; nirgends klarer als in den Zähringerstädten
vernehmen wir die gleiche Sprache, erfüllt von
innerer Energie, geprägt von geistiger Zucht. Wir müssen,
wenn wir durch das Stadttor in diese klar gefaßten,
großbemessenen Längsräume eintreten, in ihrer axialen
Gezieltheit, Bewegungsenergie und Spannweite das Gesetz
erkennen, das die Mittelschiffe großer Kathedralen formt.
Das Stadttor öffnet und verschließt den Markt, Westwerk
und Turm den Kirchenraum; im Achsenkreuz des Stadtplans
wird das Grundgesetz des romanischen Kirchenraumes
, der Schnittpunkt von Schiff und Querhaus wahrnehmbar
; das Längsgeviert zähringischer Weichbilder in
ihrer ursprünglichen Gestalt begegnet uns in den großen
normannischen Wohntürmen, Vorbild der zweiten großen
architektonischen Leistung der Zähringer, ihren Burgenbauten
von Thun, Bern, Moudon, Breisach wieder. Die
Zähringerstädte, klassische Schöpfung des hochmittelalterlichen
Städtebaus, sind nicht Randleistungen der
Romantik. Sie müssen vielmehr als vollgültige Leistung
jenes unvergleichlichen 12. Jahrhunderts gesehen werden,
das uns die strengsten und zugleich ausdrucksmäßigsten
Bauwerke seit der Antike hinterlassen hat.
Diese Ausstellung hat ein einzigartiges Privileg: ihr
Standort in der besterhaltenen zähringischen Burg. Wer
sie besucht, befindet sich in einem Bauwerk, dessen Verhältnisse
und Formen das Gesicht nicht nur der Epoche,
sondern der Bauherren aus dem Geschlecht der Zähringer
unverändert wuchtig vor uns hinstellen. Indessen ist der
Raum gedrängt. Was die Ausstellung geben möchte, das
sind die Umrisse dessen, was das Herzogshaus auf dem
Felde des Städtebaus geschaffen hat. Umrisse, nicht die
Anschauung selbst. Diese verschafft allein die gebaute
Stadt, nicht Stadtplan. Flugbild und Modell. Was die Ausstellung
nicht geben kann, das sind feste Resultate,
Forschungsbericht, Bilanz. Sie hat zu einem guten Teil
Experimentcharakter. Von Deutung, Rekonstruktion und
These hält sie sich frei. Sie gibt vielmehr die nichtinter-
pretierten Dokumente. Sie ist, mit einem Wort, Modell
einer besseren, ausgreifenderen, gereifteren Darstellung."
Wenn wir nun durch die Straßen unserer
Zähringerstädte gehen, wird uns ihr vertrautes
Bild neu und lebendiger geworden sein. Wir
werden etwas von dem großzügigen und klaren
Geist spüren, der sie schuf.
Nicht nur für das politische Gemeinschaftserleben
, die Darreichung schwesterlicher Gastfreundschaft
, die freimütige Aufschließung eigenen
Wesens und die ebenso freimütige Bestätigung
des andern in der Umschließung des gemeinsamen
Ursprungs; auch für diese städtebauliche
Erkenntnis möchten wir unserer Schwesterstadt
Thun herzlich danken.
Ottmarsheim —" Ronchamp: Beinahe ein Jahrtausend
liegt zwischen diesen Eckpfeilern elsässi-
scher Kirchenbaukunst. Und doch verbindet die
beiden Gotteshäuser manches Gemeinsame. Hier
wie dort überzeugt der Bau durch den Verzicht
auf alles Äußerliche zu Gunsten einer klaren
und überzeugenden Raumwirkung. Mit der Klosterkirche
zu Ottmarsheim entstand das in kleinerem
Maßstab und in reduzierten Formen gehaltene
Ebenbild der Pfalzkapelle Kaiser Karls
des Großen in Aachen. So liegt die Vermutung
(Bottee fdjöne Käufer im öbecelfaß
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