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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1964-08/0008
wohntes. „Mer lebe n all im Warte uf unsre
Brueder Tod", wie dicht ist das gesagt. Aber
sagen wir's wirklich so? Müßte es nicht heißen:
h„Wem mer an s Lebe denke, werde mer dra
gmahnt, aß mer emol sterbe müen", o. ä. Doch
wie banal klänge dies gegen den einleitenden,
einzigartig dastehenden Satz, der uns doch sogleich
aus dem Tagesgeschehn herausreißt ins
Sonntägliche, Dichterische. Jeder Satz ist hier
geformt, ist nicht mehr allein die Alltagssprache.
Bei allem Verständnis für die Beibehaltung der
natürlichen Sprechweise in der alemannischen
Dichtung, müssen wir uns doch vor Augen halten
, daß jedes Formen und Aufschreiben einer
Sprache diese allmählich zu einer sogenannten
Schriftsprache wandelt, wie wir sie etwa in
unserer Hochsprache vor uns haben.

So hat uns die Dichterin hier in ihre reiche
Welt geführt, indem sie ihre Gedanken in Bilder
umsetzte, die sie aus der heimatlichen Umwelt
herausholte, ein Vorgang,. der bei alemannischer
Dichtung sonst meist umgekehrt vor sich geht.
Es ist in mehrfacher Sicht ein großes Glück für
unsere heimatliche Literatur — für die alemannische
Literatur, die mit Hebel begann —, daß
uns ein solches Gedicht geschenkt wurde.

fiefttifiQ ©alm am 14% ©eptembec 1889

Betrachtung ihrer Glockengedichte:

Loß der Tag verchlinge

Loß der Tag verchlinge
wie n e Glockeglüt,
wo Iiis ufhört z schwinge —
cha'sch nit alles zwinge,
sag: s isch gnueg für hüt!

Muesch uf nüt meh blange,
lüt nit nomol Sturm!
Wenn scho d Sterne prange,
loß e Ton no hange
z öberst hoch im Turm.

Loß der Tag verchlinge

mit sym Überschwang.

Lös di vo de Dinge,

große oder gringe —

gang an d Rueih jetz, — gang!

Das ist ein Klingen und Schwingen, Heben
und Schweben, — Musik, die uns beschwichtigt
und stille werden läßt nach getanem Tagewerk.
„Loß e Ton no hange"..., das etwa in der
Mitte steht, ist .sanft verhallend in seinen tragenden
o-Klängen und gibt den drei Strophen
etwas Weihevolles und Geheimes. So schön wie
„s hangt" (zum Unterschied von „henke" bei
uns) so schön soll noch das Schönste vom Tage
bleiben, still nachsummend.

Hier war Musikalität mit am Werk. Dazu
gab die Sprache selbst in ihrer Eigenschwingung
das Ihre bei. Wir wissen von Hebel aus seinen
eigenen Äußerungen, daß er sich nicht für
musikalisch hielt. Dennoch tönt uns aus seinen
Versen überall ein Klingen und Singen entgegen
, das beglückt. Dies rührt — neben dem
intuitiven Einfühlen des Dichters in den Klang
(er war eben doch musikalisch!) daher, daß das
Alemannische eine breite, singende und wohltönende
Sprache ist, deren Vokale langgezogen
und deren Konsonanten weich ausgesprochen
werden; denn das Harte würde ja das Singende
stören. So werden t zu d, p zu b, k zu ch usw.
Nebeneinanderstehende Vokale gehen weich über
ein Binde-N ineinander über.

Die strenge und auch schwere Form hilft
hier das Glockengeläute nachzuahmen: der eingangs
auf tönende Reim auf „chlinge", der zweimal
wiederholt wird, kehrt in der Endstrophe
wieder. Dazwischen hören wir dreimal „ange",
das im Ton sich dem Worte „Klang" nähert.
Aber das Wort „Klang" selbst erscheint gar
nicht. Dieses „ang" schwingt nochmals auf in
der letzten Strophe, — ausklingend, zur Ruhe

verschwebend wie eine Glocke. Außer all diesen
bewußten Gesetzmäßigkeiten ist das Gedicht
einfach in seiner Sprache und jedem verständlich
. Es gehört zu den allerbesten im Lande.

Hörsch s wie d Glocke töne

Hörsch s wie d Glocke töne?
Freu di an dem Glüt!
S will d ganz Welt versöhne
gestert, morn un hüt!

Loß di nit dra gwöhne,
sag nit, s seig doch nüt,
s tüeg jo numme dröhne
für die frömmste Lüt.

Tue kai Chlang verhöhne,
Gottis Arm längt wyt:
Am e Tag, e schöne
hättsch für alles Zyt... !

Noch einmal führt uns die Dichterin in ihre
Welt der Musik hinein. Und hier übertrifft sie
sich selbst in der Beherrschung der Form neben
der Komposition der einzelnen Stimmen ihres
Liedes. Wieder sind es Glocken, die läuten und
wieder ist es der Reim, der die Leute ahnen
läßt, nach - ahmt. Aber mit welcher Strenge ist
dies durchgeführt, einer Strenge, die ganz verborgen
ist und sich nur nach längerem Hinhorchen
offenbart: wir haben es nur mit zwei!
Reimen zu tun, „töne" und „Glüt" und dies für
alle drei Strophen. Das ist gleichsam wie die
beiden Schläge einer Glocke, wie der sogenannte
Schlagton, den wir als den eigentlichen Ton
hören, der aber nach der wissenschaftlichen
Messung mit elektrischen Meßgeräten gar nicht
vorhanden ist, sondern durch die Schwingungen
der Nebentöne entsteht, eine Besonderheit und
das Geheimnis der Glocke. Wie schön erstehen
nun aus diesem Schlagton „töne" und „Glüt"
die Gedanken und Gesichte der Dichterin. Solche
Beschränkung innerhalb des Formalen haben
sich nur wenige Alemannendichter auferlegt.
Das ist gesetzt, „ohne daß man s merkt". Man
erinnert sich dabei etwa an das letzte Thema
Bachs in der ,Kunst der Fuge4, wo b - a - c - h
noch auf vierzehn Töne erweitert wird, damit
es nach den Buchstaben des Alphabets auch noch
zahlenmäßig den Namen BACH symbolisiere.

Wie natürlich wird uns hier gesagt, wie das
Glockengeläute — das Symbol so vieler Religionen
— die Welt versöhnen will, wie jeder, nicht
nur die Frömmsten darauf hören sollten, ehe es zu
spät sei. Ein Gedicht für den Frieden der Welt.

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