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häuse verkriechen? Hatte sich doch selbst die
Klosterzelle als zu schwach erwiesen gegen diesen
Ansturm des Meeres der entfesselten Gedanken
.
Das war auch eine Zeit des Zweifels und der
Unsicherheit, in der die Melancholie auf so manchen
ihre Schatten niedersenkte. Harte Kriege
mit ihrem bösen Gefolge standen als dräuende
Kometen am Himmel der Zukunft. Es war kein
nachhaltiger Trost, daß just um diese Zeit ein
wirtschaftlicher Aufschwung nicht zu verkennen
war, daß die. neuen Handelsbeziehungen eine
ungeheure Steigerung des Reichtums, wenigstens
der Städte, herbeigeführt hatten. Auch auf Dürers
Bild rechnet der kleine Genius und addiert. Eine
Steigerung der Bedürfnisse geht mit dem Aufschwung
Hand in Hand, und die Begierde nach
Besitz wird nur um so heftiger. Auch hier wiegen
die Sorgen weit über die Freuden.
Melancholie überall, Melancholie die Gefährtin
des Menschen gerade in seinen größten Tagen,
wo er erkennen muß, welch ein Riesenabstand
immer zwischen dem Begehren, dem Streben
und dem Erreichenkönnen bleibt. Aber wie dem
Kranze der. ernsten, traurigen Frau auf Dürers
Tafel das Grün entsprießt, so erschließen sich
dem Menschenherzen in seinen schwersten Stunden
neue Quellen des Trostes und der Freude.
Wenn das Gehäuse allein nicht ausreicht zum
Schutze gegen die Feinde draußen, so holt man
sich eben Bundesgenossen hinein.
Noch ein kleines Bild. Wir müssen es uns
selber gestalten, denn es gehört zu jenen, die
sich nicht malen, sondern nur erzählen lassen.
Sir James Melvil ist dieser Erzähler, ein Abgesandter
von Schottlands schöner Königin an
Elisabeth von England. Im Jahre 1564 war auch
Elisabeth noch jung, ihr Reich blühte. Noch
lastete keiner der schweren Taten auf ihrem Leben
, die später schwermütige Stunden erklären
können. Und doch, als an einem Nachmittag Sir
Melvil und Lord Hunsden in ihr Gemach traten,
erhebt sich Elisabeth vom Spinett, an dem sie
gespielt: „Ich pflege", sagt sie, „nie vor Männern
zu spielen; ich spiele nur, wenn ich allein bin,
um die Melancholie zu vertreiben."
Was die stolze Königin in ihrem reichen
Palaste tat, das tat die ganze Welt: Man holte
sich die Musik ins Haus.
Sie war bisher nicht darin gewesen. Das Leben
hatte sich bisher mehr draußen abgespielt in
kirchlicher und weltlicher Gemeinde, in Zunftstuben
und Ratsversammlungen. Man feierte in
großer Gemeinschaft, wie man in ihr betete,
trauerte und Buße tat. Das individuelle Leben
hatte bislang gefehlt; man lebte viel mehr den
Stand als seine Persönlichkeit. Der Hintergrund
für das Leben dieser aber ist eben das intime
Haus. Mit der Befreiung der Persönlichkeit war
auch die Bedeutung des Hauses eine andere
geworden.
In dieses Haus nun holten sie sich als Schützerin
vor der Melancholie die Musik. Sie holten
sie aus den Kirchen, wo sie in den Händen großer
Baumeister zu Gebilden geformt war, kühn,
wie die gewaltigen Dome selber. Aber auch streng
und starr wie sie; das bunteste Zierwerk änderte
nichts an der harten Notwendigkeit der gezwungenen
Führung. Diese Kontrapunktik war Kirchenkunst
, wie die Kirche das Haus war für die
Gesamtheit. Ihr fehlte das Persönliche, das Trauliche
; sie fügte sich nicht ins heimliche Stübchen.
In ihr ließ sich wohl predigen, auch wohl beten,
das Gebet der Gemeinde. Aber sie taugte nicht
zu heimlicher Zwiesprache mit der eigenen Seele,
den eigenen Gedanken.
So suchte man weiter. Man forschte in gelehrten
Büchern und schuf nach toten Regeln der
Griechen eine lebendige Sprache neuen Fühlens.
Andere aber fanden einen viel näheren Weg, indem
sie die unscheinbaren Blumen pflückten, die
in Wald und Flur wucherten, wild wuchsen, wie
seit Jahrhunderten. Aber so lange schon waren
sie gering geschätzt und höchstens annehmbar,
wenn sie vom Kunstgärtner zurechtgestutzt und
mit recht fremdartigem Gewächs zusammengeflochten
waren. Diese Blume war das Volkslied,
wie es auf den Gassen die Burschen, in den Stuben
die Bauernmädchen sangen. Diese Zeit lernte
dieses Volkslied schätzen, während man es bisher
höchstens als Grundlage (Tenor) kunstvoll gearbeiteter
Chöre hatte gelten lassen, als dürres
Staket, um das erst die Kontrapunktik die blühenden
Ranken winden mußte.
Der beste Zeuge für diese Stimmung ist Shakespeare
. Man braucht nur in seine Werke zu
schauen. Seine Narren zumal stecken voller
Volkslieder wie voll lustiger Einfälle. Und wie
gerade die Vornehmen sich nach diesen Weisen
sehnen! Man höre den Herzog in „Was ihr wollt"
(IL Akt 4. Sz.):
„Macht mir Musik!---
Nun denn, Cesario, jenes Stückchen nur,
Das alte schlichte Lied von gestern abend!
Mich dünkt, es linderte den Gram mir sehr,
Mehr als gesuchte Wort' und lust'ge Weisen
Aus dieser raschen, wirbelfüß'gen Zeit."
Und gleich darauf:
„Gib acht, Cesario, es ist alt und schlicht;
Die Spinnerinnen in der freien Luft,
Die jungen Mägde, wenn sie Spitzen weben,
So pflegen sie's zu singen; 's ist einfältig
Und tändelt mit der Unschuld süßer Liebe,
So wie die alte Zeit."
Dieselbe Zeit fühlte auch die Lächerlichkeit,
die innere Unwahrheit des Gefühls, die sich so
oft unter der kunstvollen Form der Kontrapunktik
versteckte. Wenn in dem gleichen Stück
der Narr mit den Junkern einen Kanon singen
soll auf den schönen Text „Halt's Maul, du
Schelm", so macht sich der Narr mit Recht über
den Widerspruch lustig, der in der kanonischen
Wiederholung dieser Aufforderung liegt. Wenn
auch nicht so drastisch, so findet sich doch oft
genug in hochgeschätzten Kompositionen der
Kontrapunktik der gleiche Mangel an Übereinstimmung
zwischen Wort und Musik.
Wie hoch schätzte aber auch diese Zeit die
Musik! Man denke nur an Luthers Beispiel in
Kirche und Haus. Und auch die Literatur bezeugt
es. Man sucht in der ganzen mittelalterlichen
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