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Friedrich Sack, Oldenburg:
odtelig etäbtli
Wie wurde ich nach Lörrach geführt? Auf verhältnismäßig
langem und etwas umständlichem
Weg.
In jedes Menschen Leben tragen sich Dinge zu,
die als seltsam zu betrachten er sich ganz einfach
genötigt sieht, Geschehnisse, für deren Zustandekommen
er keine Erklärung findet. Man darf
freilich nicht stumpfen Sinnes sein, sonst geht
man achtlos daran vorüber oder spricht höchstens
von Zufälligkeiten. Mit dem Unerklärlichen hat
sich bekanntlich Wilhelm von Scholz stark beschäftigt
und manches zum Nachdenken führende
darüber geschrieben.
Was mich betrifft, so rechne ich dazu den Umstand
, vor mehr als zwei Jahrzehnten den Dr.
Heinrich Reuter aus Lörrach erfunden zu haben.
Er hätte auch aus Kandern sein können oder aus
Schopfheim oder aus Zell. Nein, seine Heimat
mußte durchaus Lörrach sein. Schlummert im
Unterbewußtsein Prophetie? Leider fristet dieser
Heinrich Reuter sein Schattendasein immer noch
nur auf den Blättern eines Buchmanuskriptes
„Der Sonnenfuhrmann", ohne in seiner geschriebenen
und beschriebenen Gestalt einem Lebenden
vor die Augen gekommen zu sein. Besagter
Heinrich Reuter, einer der oberbadischen Flüchtlinge
von 1848, befand sich auf dem Wege zum
rettenden Schiff und hatte sich bereits mit Mühe
und Angst durch Süddeutschland hindurchgeschlagen
, als im thüringischen oder richtiger
nordfränkischen Hildburghausen die Polizei ihm
allzu dicht auf den Fersen war. Da war es der
Sohn des alten Volkstribunen Joseph Meyer, der
ihn verbarg und ihm zur Fahrt nach dem befreienden
Amerika verhalf.
Heinrich Reuter mußte ein Markgräfler sein.
Denn in seinem Aufsatz aus den zwanziger Jahren
über das Volkstum in Baden schreibt Hermann
Eris Busse: „Der Markgräfler ist von
Grund auf ein stark gefügter, großer Menschenschlag
, geistig sehr rege. Da wirkt der Wein mit.
Selbstherrlich und selbstbewußt geht der Markgräfler
durch die erst markgräfliche, dann die
badische Geschichte. Er hat anno 48 tüchtig
gewirkt."
Hatte es mir damals ein guter Geist eingegeben
, den bedrohten Flüchtling ausgerechnet aus
Lörrach herkommen zu lassen? Leitete mich eine
Ahnung, ich würde später einmal zu dieser Stadt
in Beziehung treten, ja, schließlich durch ihre
Straßen wandeln? Abgesehen davon, daß ich
durch Johann Peter Hebel schon immer von ihr
gewußt hatte:
Jez goht's Thuemrige zue, jez witer in
d'Lörecher Matte.
Siehsch das ordelig Städtli mit sine Fenstre
und Gieble,
und die Basler Here dort uf de staubige Stroße,
wie sie riten und fahren?
Lebendige menschliche Beziehungen bahnten mir
weiter die Straße. Das kam wie nach Wilhelm
Raabe: Auf leisen Sohlen. Auch dauerte es eine
geraume Zeit, wie sich das alles entwickelte,
klärte und am Ende enthüllte — und erfüllte.
Zunächst einmal also war Lörrach mir die
Stadt Hebels und mit dessen Leben und Dichten
verknüpft.
Dann fand ich die Verbindung Lörrachs mit
Hans Thoma. Dort wohnten eine Zeitlang seine
Mutter und die Schwester Agathe, bis sie 1867
nach Säckingen übersiedelten. Sohn und Bruder
Hans besuchte sie häufig von Basel aus, wo er
vergeblich auf eine Anstellung als Zeichenlehrer
wartete; in der schönen Umgebung Lörrachs hat
er manches Bild gemalt. Bei den Seinen herrschte
eine ärmliche Wirtschaft; Agathe schlug sich notdürftig
als Näherin durch. Mutter und Schwester
wohnten in der Kirchgasse-Adlergasse im Hinterhaus
von Küfer Wenner. „In einem dumpfen,
kellerartigen Zimmer lebten sie", heißt es in
den Erinnerungen Hans Thomas, „bei der Tante
Marie, die ebenfalls hier als Näherin ein Unterkommen
gefunden hatte." Abends begaben sie
sich gemeinsam mit dem Sohn und Bruder häufig
durch das kleine Adlergäßlein zu dem Bäckermeister
Birmel, wo ein frommer Kreis in dem
Zimmer über der warmen Backstube zu Andachten
zusammenkam, die ein Pfarrer Eichhorn leitete
; der war aus der unierten badischen Landeskirche
ausgetreten, um in die frühere Landeskirche
zurückzukehren, und hatte in Ihringen am
Kaiserstuhl eine neue Gemeinde gegründet.
Meine jüngste Hinführung zu Lörrach geschah
in den letzten Jahren; sie sollte einen Besuch der
denkwürdigen Stadt im Gefolge haben. Lörrach
wurde mir nämlich auch zur Stätte des mir lieb
und wert gewordenen Volksschriftstellers Hermann
Vortisch, des Arztes, Missionars und Dichters
, dessen hier in der Zeitschrift „Die Markgrafschaft
", und zwar im Aprilheft 1964 gedacht
war, weil er dann im Juni 90 Jahre alt geworden
wäre. Früher wußte ich über Hermann Vortisch
nichts. Jahr für Jahr hatte ich im Schwarzwald
geweilt und mehr als nur meine Erholung dort
gefunden; erst im siebenten Jahre sollte mich ein
gütiges Geschick wenigstens für ein paar Stunden
sie kennen lehren.
In meinem Wohnsitz, dem jetzt niedersächsischen
Oldenburg, besucht mich allmonatlich Frau
Helmtrud Grünberg, Gattin eines Musik-Oberstudienrates
, in einem kirchlichen Auftrag. Es
blieb nicht bei der Erledigung der Sammelliste.
Menschen müssen nur miteinander reden, dann
tun sich Türen auf, Türen zu unvermuteten Räumen
. Wir sprachen vom Schwarzwald, selbstverständlich
, war ich doch eben wieder von dort zurückgekehrt
. Wir unterhielten uns über Gegenden
, die uns gemeinsam bekannt waren. Dabei
stellte sich heraus, Frau Grünberg sei Lörracherin.
Wir kamen dadurch auf Johann Peter Hebel.
Sagte Frau Grünberg: „Mein Vater hat ein
Buch über Hebel geschrieben." — Das nächste
Mal brachte sie es mit: „Vom Peterli zum Prälaten
", von Hermann Vortisch. Im Katalog eines
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