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des Präzeptoratsvikariats. Wie golden erscheinen diese
ehemals als so hart empfundenen Jahre jetzt! Wie verklärt
strahlen sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart
zurück! Der Glanz, der über ihnen liegt, rührt
davon, daß sie im Oberland gelebt werden durften. Man
muß sie festhalten.
Erzähler: Also setzt sich Hebel an den toten Abenden
hin und liest zum Andenken an die trotz allem lustige
Lörracher Zeit immer noch einmal den
Hebel: — Almanach des Proteus auf das gnadenreiche
Jahr eins —
Erzähler: — mit der launigen Proteischen Zeitrechnung,
den Grundstrichen des Proteischen Lehrsystems und
dem Verzeichnis der berühmtesten Proteologen älterer
und neuerer Zeiten. Zu diesem Almanach gehört auch
das —
Hebel: — Wörterbuch des Belchismus, —
Erzähler: — äußerlich genommen vier kleine Briefbogen
, von Hebels Hand eng beschrieben, — dem Inhalt
nach eine Sammlung von mit Hitzigs zunächst unverständlichen
Worten samt ihrer deutschen Bedeutung.
Oben auf dem ersten Blatt steht der Titel, dann folgt
eine Anmerkung mit dem Wortlaut:
Hebel: Diese Sammlung enthält eigentlich nur ein Verzeichnis
der am Ende des Jahres eins im Belchismus
aufgenommenen und gangbaren Worte. Sie ist die Ur-
sammlung, von welcher jeder Proteuser dritten Grades
eine Abschrift in Händen haben muß. Die Erweiterung
ist den kommenden Jahrgängen vorbehalten.
Erzähler: Um es vorweg zu nehmen: Zu einer Erweiterung
des in Lörrach verfaßten Wörterbuches kam es
ebensowenig mehr wie zur Abfassung eines nochmaligen
Almanachs. Wörterbuch und Almanach bleiben Nachklang
der Lörracher Zeit und ein Zeugnis dessen, was
die Lörracher Freunde damals dachten und trieben und
ausheckten.
Sprecher: Das Wörterbuch des Belchismus ist, wie es
in der Anmerkung heißt, für die Proteuser gedacht.
Proteuser, — das sind die Lörracher Freunde Günttert,
Hitzig und Welper. Das gnadenreiche Jahr Eins ist das
Jahr 1790 auf 91, in dem das Proteusertum des Freundeskreises
entstanden ist. Das heißt in dem die Freundschaft
der drei Männer ihre feste, wenngleich spielerische
Form gefunden hat. Die Form eines Ordens, wie
sie Hebel im studentischen Leben in Erlangen kennen
gelernt hat. Der Name Proteuser kommt von Proteus.
Im Altertum nannte man Proteus den Gott des ewigen
Wechsels und des Nichts. Und wie die studentischen
Orden und Logen in Erlangen ihre Geheimsprache gehabt
, so entwickeln die Lörracher Proteusanhänger die
ihre. Im fröhlichen Zusammensein, beim Wein, bei Spaziergängen
, auf Wanderungen. Weshalb? Um sich in
Gegenwart anderer, nicht dem Freundesbund Angehörender
, gelegentlich etwas sagen zu können, was diese
nicht verstehen konnten. Im Grunde also eine fröhlichalberne
Spielerei junger Leute? Ein gezwungener Versuch
zur Schaffung von Exklusivität? So scheint es.
Oder steckt doch mehr dahinter? Vielleicht in jener
Richtung zu Suchendes, aus der Hebel das Wort gewonnen
hat für das Ganze dieser Sprachspielerei — das
Wort „Belchismus"? Was heißt überhaupt Belchismus?
Wie ist das Wort gemeint?
Erzähler: Eine gewisse Antwort auf diese Fragen gibt
das Wörterbuch des Belchismus selbst. Es verzeichnet
unter dem Buchstaben B ein Leitwort, dessen Wichtigkeit
durch Unterstreichung betont wird. Man liest dort:
Hebel: Belchen. — Belchisch - wesentlich. — Belchig-
keit = Das Wesen einer Sache, z. B. Belchigkeit der
Sonne: Das was die Sonne für den Proteuser zur Sonne
macht. Belchismus: Geheime (wesentliche) Sprache.
Sprecher: Mit anderen Worten: Der Ausdruck Belchismus
kennzeichnet also nicht eine Philosophie oder eine
Lehre, sondern bezeichnet die Geheimsprache der Pro-
teuserfreunde. Die Sprache, in der sie sich als Proteuser
— und das heißt: unter sich — unterhalten. Die
Wurzel des Wortes Belchismus ist auch klargelegt: Sie
besteht aus dem Bergnamen Belchen und der Endung
-ismus. Was hat ein Berg namens Belchen mit den
Lörracher Proteusern zu schaffen? Und welcher der
Belchen, die sich links und rechts des Oberrheins erheben
und ihren Namen seit der Zeit der keltischen Besiedlung
des Landes tragen, ist gemeint? Natürlich nicht
einer der Elsässer Belchen, sondern der am Nordende
des kleinen Wiesentals aufragende Belchen. 1414 Meter
hoch. Der drittgrößte Berg des Schwarzwaldes. Seine
majestätische Kuppe ist als Wahrzeichen des Oberlandes
bekannt. Diesem Berg gilt Hebels Verehrung und
Sehnsucht, dieser Berg ist ihm für Zeit seines Lebens
zum Inbegriff der Oberländer Heimat geworden,
seit er —
Erzähler: — im Sommer 1791 zweimal auf den Belchen
gewandert ist, — das eine Mal auf dem nächsten Weg
über Wieslet und Tegernau, das andere Mal nach Süden
ausholend über Adelhausen und Eichsei, Schopfheim und
Schönau und über Neuenweg zurück. Freund Hitzig hat
ihn begleitet, und die zwei Freunde haben an Erhebung
und Erschütterung durch die gewaltige Natur der Bergwelt
damals so viel so nachdrücklich erfahren und ihre
Erfahrungen so sehr mit ihrer proteusisch-jugendlichen
Exaltiertheit in Beziehung gesetzt, daß dieses Erlebnis
ihres letzten gemeinsamen Jahres bis an ihr Lebensende
immer wieder zurückleuchtet. In allen Briefen, die Hebel
an Hitzig während der Zeit der Trennung schreiben
wird, erscheint der Belchen als gegenwärtige Macht: Als
Altar des Proteus, als Symbol der Erhebung über den
Alltag, als Ziel von Hebels Heimweh, als unerreichbare
Größe aus der Heimatwelt. Im Februar 1794 weiß Hebel
den Naturwissenschaftler Gmelin, seinen Karlsruher
Kollegen, nicht besser an Freund Hitzig zu empfehlen,
als daß er einen Beichenbesuch des naturkundigen Kollegen
als Ausweis angibt. Hebel schreibt in jener Versepistel
:
Hebel: Wenn er Zeit hat, so brockt er
dir ein wenig Naturweisheit ein.
B'halt ihn, so lang du kannst, bei Seiten;
er wird dich in alle Wahrheit leiten,
ist auch auf dem Belchen gewesen,
hat schmucke Buseröri gepflückt
und hat des Proteus Lichtsaum erblickt
und ist in seinem Antlitz genesen . . .
(Fortsetzung folgt.)
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