http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1967-04/0005
Hebel: Jetzt soll alles nicht mehr gelten, was ich im
Anfang dieses Briefes von Madame Hendel geschrieben
habe. Denn es ist mir herzlich leid und weh, daß sie
gestern früh fort ist. Indessen, Leutlein, behaltet doch
euer Gevattermann den Kopf oben, und ist nicht vernarrt
, sondern nur entzückt und heilig. Denn den letzten
Abend ihres Hierseins widmete sie einer kleinen Zahl
von Erwählten und entwickelte eine Kunst und ein göttliches
Talent, das sie wohl auf keinem Theater und vor
keinem gemischten Publikum preisgibt. Lauter Pantomime
, Attitüden und Gruppierungen. Zuerst eine Reihe
von Madonnabildern: Maria Verkündigung — die Mutter
Gottes mit dem Kindlein auf dem Schoß — das Wiederfinden
im Tempel, als Jesus 12 Jahre alt war. — Maria
bei der Kreuzigung — Maria mit dem Leichnam auf dem
Schoß — Maria ihrem Sohn nachblickend bei der Himmelfahrt
. Dies alles nach Phantasie und eigenem Gefühl.
Dann noch einige Madonnenbilder nach Albrecht Dürer.
O daß ihr liebe Kinder und Ohnmacht da gewesen
wäret . . .
Sprecher 1: Mit Ohnmacht ist der Straßburger Bildhauer
Landolin Ohnmacht gemeint, der als Schöpfer des Reliefporträts
Hebels bekannt ist. Hebel fährt in der Aufzählung
der lebenden Bilder der Madame Hendel fort:
Hebel: Im zweiten Akt gab sie Momente aus der griechischen
und römischen Welt, vorzüglich schöne Niobe, Galathea
, Virginia, eine vestalische Jungfrau, Pätus und
Arria...
Sprecher 1: Die Liste der Szenen ist im Brief an Hitzig
noch um einige Stücke länger. Im Hitzigbrief kommt denn
auch die persönliche Anteilnahme des Dichters und der
Schauspielerin in der Begegnung der beiden klar zum
Ausdruck. Dort schreibt Hebel am 15. November 1808:
Hebel: Nach der Vorstellung nahm sie noch ein Abschiedsmahl
von einigen Freunden an,... wobei ich mich auf
ihr unwiderstehliches Verlangen mit der Deklamation
des Nachtwächters und des Morgensterns blamieren mußte
. Das Beste daran kann gewesen sein, daß ich bei der
Stelle: „er möcht em gern e Schmützli ge" die Deklamation
mit züchtiger Aktion begleitete, und bei der Stelle
„Er rüeft sim Sternli Bhüti Gott" mit einem Afetuoso
aufhörte . .
Sprecher 1: Kein Zweifel: Der Kirchenrat und Dichter
Hebel hatte sich in die Schauspielerin verliebt. Und er
besaß genug Freiheit des Geistes, dies auch in dem Freundeskreis
, der sich um Madame Hendel zum Abschiedssouper
scharte, ganz offen zu zeigen. Er muß sehr ergriffen
gewesen sein, um seine sonst zu bemerkende Schüchternheit
derart hintanzusetzen. Zweifellos spürte er, daß ihm
von der Frau ebenfalls ein Strom von Sympathie entgegenkam
. Doch für dieses Jahr 1808 blieb es bei der enthusiastischen
Bewunderung auf Seiten Hebels und blieb
es auf Seiten der Schauspielerin bei der erfreuten Annahme
der zarten Huldigung des prominenten Dichters.
Aber der Pfeil des Liebesgottes hatte getroffen, — den
Mann und die Frau.
Sprecher 2: Bei dem Mann Hebel sogar so verwundend,
daß er außer Madame Hendel keine anderen Schauspielerinnen
mehr sehen oder gar mit ihnen umgehen mochte.
Und es suchten ihn viele Schauspielerinnen auf, die seine
Alemannischen Gedichte in das Repertoire ihrer Deklamationen
aufnehmen wollten. Schon der zitierte Brief an
Hitzig vom 15. November 1808 meldet zu diesem Punkt
in unmittelbarem Anschluß an den Bericht über das
Abschiedssouper:
Hebel: Aber wie jedes Fäßlein am Ende trüb lauft, so
führt der Desegelesgeinet —
Sprecher 2: — Desegelesgeinet ist die proteusisch-belchische
Verballhornung für Dengelegeist und bedeutet nach dem
Wörterbuch des Belchismus „der Teufel", —
Hebel: — führt der Desegelesgeinet am nämlichen Tag
die Madame Bürger in die Stadt, die einen Monat hier
bleiben will. Sie will hier unter anderem auch alemannische
Gedichte deklamieren, und ich mußte sie, weil sie
keine Warnung annimmt, schon eine Stunde lang in der
Probe ab- und anhören. Morgen geht der Teufel los. Ich
will aber heute noch den Brief so zusiegeln, daß ich ihn
selber gewiß nimmer aufbringe, und will morgen in
meine eigenen Ohren fluchen, nicht in die Deinigen. Sieh,
lieber Zenoides, so lieb hab ich dich, daß ich dir gerne,
mein Festliches mitteile und meine Leiden allein trage.
Gott bewahre dich vor poetischen Weibsleuten . . .
Sprecher 1: Man sieht: Hebel war durch die Begegnung
mit Madame Hendel für den Umgang mit anderen Frauen
gehemmt. Aber Madame Hendel war weit. Es sollte fast
ein Jahr vergehen, bis Hebel wieder etwas „Festliches"
an Freund Hitzig berichten konnte. Denn erst im Oktober
1809 kam Henriette Hendel wieder nach Karlsruhe.
Sie setzte ihren Karlsruher Bewunderern nicht nur ein
außerordentlich großes Programm vor, sondern schürte
Hebels Sympathien für sie recht kräftig während dieses
Aufenthalts. Man muß annehmen, daß Henriette Hendel
den Kirchenrat ebenfalls liebgewonnen hatte. Die psychologischen
Hintergründe der Begegnung der beiden Menschen
skizziert Wilhelm Zentner einmal treffend so:
Sprecher 2: Möglicherweise schmeichelte es auch ihrer
weiblichen Eitelkeit, zu der sie ihr Beruf verpflichtete,
gerade eine solche, im allgemeinen als schwer zugänglich
bekannte Natur gewonnen zu haben. Wie einerseits der
alemannische Sänger in ihr ein dem eigenen Wesen konträres
Element, den Glanz einer ihm fremden Welt, den
Zauber jenes ihn mitunter lockenden „Vagabundischen"
zu finden glaubte, so suchte die Schauspielerin in ihm nicht
minder ihr Gegenteil, jenes gefestigte bürgerliche, boden-
säßige Moment, nach dem die weltfahrenden Leute des
Theaters zuweilen jähe Sehnsucht übermannt . . .
Sprecher 1: Doch folgen wir den Ereignissen in Karlsruhe
während des Oktobers 1809. Hebel hat darüber wieder in
zwei Parallelbriefen berichtet, und diesmal an Hitzig zuerst
. Unterm Datum des 27. Oktobers - als Hebels Liebesroman
mit der Schauspielerin Henriette Hendel nach einer
heftigen Kulmination und anschließender Katastrophe
längst vorüber war, - berichtet der Dichter an den Freund
ins Oberland:
Hebel: Vierundzwanzig Tage hindurch, so lange Madame
Hendel hier war, schwelgte ich diesmal in einem Genuß,
der mir vor einem Jahr schon minutenweise unbezahlbar
war. Sie gab diesmal ihre mimischen Darstellungen öffentlich
, dann die Jungfrau von Orleans, Medea, die Gräfin
Orsina in Emilia Galotti, die Phädra zweimal, und am
Montag ein Deklamatorium. Ihr Umgang aber ist eine
immerwährende Sitzung der Akademie der Künste, der
goldenen Lebensweisheit und des Frohsinns. Der Montag
aber nicht nur mein, sondern des ganzen Oberlandes Ehrentag
. Sie hatte schon während ihres Hierseins fast alle Tage
3
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/markgrafschaft-1967-04/0005