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die alemannischen Gedichte mit mir gelesen. Die grammatikalische
Aussprache lernte sie anfänglich schwer, weil
sie immer andere Dialekte einmischte und mit dem Sinn
davon flog. Die höhere, charaktermalende fand sie, sobald
jene Schwierigkeit besiegt war, durch ihren Takt und die
Gesetze ihrer Kunst selber und stellte den Charakter der
Oberländer, wenn sie nicht luxurierte, oft zum Staunen
treu und treffend dar . . .
Sprecher 1: Henriette Hendel hatte mit ihrem — für
sie so nützlichen — Interesse an Hebels Alemannischen
Gedichten den Dichter auf einen Kernpunkt seines Wesens
hin angesprochen. Doch hätte er sich kaum so beim
Unterricht in der alemannischen Mundart engagiert,
wäre die Schülerin eben nicht die charmante Henriette
Hendel gewesen. Hebel behauptet, daß sie das Alemannisch
nicht leicht lernte. Das ist anzunehmen, — aber
war es dem Dichter nicht gerade wertvoll, daß er auf
diese Weise Gelegenheit und Vorwand hatte, sich mit
der Schauspielerin oft zum Lesen zusammenzusetzen?'
Auch diese Annahme geht kaum fehl. Wie auch bestimmt
nicht die weitere, Madame Hendel habe in geübter
Koketterie sich ungeschickter gestellt als nötig, — um
dem Lehrer noch mehr Gelegenheit zu geben, seine
geliebte Oberländer Sprache zu sprechen und zu lehren.
Wofür er der Schülerin wiederum erst recht dankbar
und verbunden war. Ein Zauberkreis der Liebe, die jeden
Vorwand benutzt, um bei ihrem Objekt zu verweilen
. Doch begnügte sich Henriette Hendel nicht mit diesen
stillen Beweisen ihrer Zuneigung, — sie zeigte ihre
Zuneigung auch öffentlich. Eben bei jenem Deklama-
torium, das zu Hebels Ehrenabend wurde und das er
bescheiden als des Oberlandes Ehrentag bezeichnet. Der
Brief an Hitzig fährt fort:
Hebel: Unter den Stücken, die sie deklamieren wollte,
stand von' den alemannischen Gedichten nur Hans und
Verene auf dem Zettel. Sie trug es in Gegenwart des
Hofes und Adels, des Fürsten von Thum und Taxis,
mehrerer Fremden, die wegen dem Kaiser hier waren,
und mehr als 600 Personen verschiedener Stände unter
beständiger Begleitung des allgemeinen Beifalls vor, der
am Ende in ein so lautes und langes Klatschen ausbrach,
daß sie hoffen konnte, dem Publikum mit einer Repeti-
tion gefällig zu sein, und fing von neuem an: Es gfallt
mer nummen eini. — Aber als jetzt nach dem Zettel
eine Szene aus Macbeth folgen sollte, hielt sie einige
Sekunden still, schaute mich (ich saß im Parkett in den
vordersten Reihen) eine Weile lächelnd an, als die eine
Spitzbüberei im Sinn hat, und begann mir selbst überraschend
„z' Fryburg in der Stadt etc." Auch dies vortrefflich
, und fast mit noch größerem Beifall, weil es
unerwartet war. Aber nun denke dir ein Weib, das im
stolzen, königlichen Bewußtsein, alles tun zu dürfen, was
es will, auch wirklich alles tut, was sie will — in der
Stelle
Minen Auge gfallt . . .
gel de meinsch, i sag der Wer . . . ,
dreht sie sich nach mir, sagt —
es isch kei Sie, es isch en Er —
und deutet auf mich.
Sprecher 1: Eine Liebeserklärung der Schauspielerin an
den Dichter, auf öffentlicher Bühne gesprochen und mit
des Dichters Worten, durch die Umstellung der Worte
„kei" und „en" erreicht. Schöner, deutlicher und zwingender
konnte die Schauspielerin dem Dichter eigentlich
nicht sagen, daß sie ihn mochte und was sie von ihm
wollte. Daß sie ihn wollte. Hebels Verwirrung läßt
sich ermessen. Er verbirgt sie im brieflichen Bericht
durch detaillierte Schilderung des Eindrucks, den die
Liebeserklärung Henriette Hendels auf das Publikum
machte, und durch die Schilderung der Gegenreaktion
der Schauspielerin.
Hebel: ...und deutet auf mich! — Eine Schauspielerin
auf dem Theater und ein Kirchenrat auf dem Parkett!
Hätte nicht das Publikum, wenn es auch nur einige
Achtung für meine Person und mein Amt hat, jede
andere mit dem Zeichen der Indignation auf der Stelle
bestrafen müssen? Nichts! Das Klatschen dauerte so
lang und laut, daß sie den Schlußvers nicht mehr anbringen
konnte, und statt für den Beifall stumm zu
danken, tat sie es laut und sagte, daß sie dieses Glück
(ich will aus Bescheidenheit nicht alles nachschreiben,
aber das Schönste) ihrem Freund Hebel zu verdanken
habe, durch dessen Gegenwart sie begeistert sei. Meine
Fassung kann ich nicht begreifen, wenn sie nicht selbe
durch geheime Künste auf mich wirkte. Während alle
Logen und Galerien auf mich schauten, schaute ich auf
sie, und nickte ihr einen leichten anständigen Dank. In
solchen Abenteuern treibt man sich herum . . .
Sprecher 1: Um einiger Nüancen willen liest man Hebels
Bericht von dieser Stelle an besser im Brief an Sophie
Haufe weiter, der am Tag nach dem Hitzigbrief geschrieben
ist. Hatte die Beziehung zwischen der Schauspielerin
und dem Kirchenrat in der öffentlichen Apostrophierung
ihren Höhepunkt gefunden — wenigstens soweit Hebel
uns überhaupt informiert —, so folgt jetzt ein Ereignis,
das den Umschwung bringt. Ein Ereignis, das für den
von Ehrung und Verliebtheit ekstatisch erhobenen Mann
beinahe eine tödliche Katastrophe hätte bedeuten können
. Man höre, was darüber berichtet:
Hebel: ... Nach dem Schluß dankte ich ihr im Garderobezimmer
mit einer Umarmung, das war auch gut, und
holte sie zu einer Abendgesellschaft ab, wo ich ihr zur
Vergeltung einen heroisch - tragischen Auftritt so gut
ich's als Laie kann zum Besten gab. Ich stürzte nachts
um 12 durch eine Balkontüre — notabene ohne Balkon
—, die ich für ein Fenster hielt, an welchem ich die
Tabakspfeife ausleeren wollte, hinaus, blieb aber doch
mit der schwereren Hälfte des Körpers im Saal, obgleich
der Kopf daraußen in der Luft, nachts um 12 Uhr auch
nicht mehr mein Leichtestes war, ganz ohne allen Nachteil
, ohne den mindesten Schrecken, ohne Spur von
Schmerz. Ich begreife meine Rettung und meine Ruhe
bei völligem Bewußtsein nicht, aber schon vor einem
Jahr habe ich Madame Hendel dafür angesehen, daß sie'
im Besitz verborgener Künste sei . . .
Sprecher 1: Man ist versucht, diesen Beinahe-Sturz des
verliebten Kirchenrats als Symbol dafür zu nehmen, wie
er der koketten Schauspielerin auch nur beinahe anheimgefallen
wäre. Wie die weitere Lebensgeschichte
der Hendel zeigt, kam es ihr auf eine schnelle Wiederverheiratung
an. Hebel aber war kein Mann der schnellen
Entschlüsse, zumal nicht in einer Lebensentscheidung
wie der Eheschließung. Er ließ die geliebte Frau wieder
ziehen, ohne daß er sich erklärte. Und notiert:
Hebel: Am Montag ging sie fort. Seitdem spielen ich
und ihr Eichhörnchen, das sie mir schenkte, zwei betrübte
Figuren miteinander. In vier Wochen kommt sie
wieder . . .
(Fortsetzung folgt.)
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