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19. Jahrhundert, und selbst heute, noch, da der
Rhein längst schon seit Tullas Tagen keine Inseln
mehr schafft und andre entreißt und zwischen
den Gemeinden holde Eintracht herrscht, lebt bei
den alten urigen Neuenburgern ganz verborgen
im letzten Hinterstübchen des Herzens wohl verwahrt
eine heimliche Erinnerung an diese Spänne
und Irrungen und Rechte.
Die Menschheitsfrage, was Recht sei? wartet
immer noch auf ihre Lösung. Die Antwort gehört
wohl einer andern Welt an, die alles Begehren
aufhebt.
A. Eisele, Kandern:
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am 20.4.1848
In meiner Heimat Rastatt steht auf dem Friedhof
ein Gedenkstein mit der Inschrift: „Den
Opfern des Unverstands und der Willkür, den
Kämpfern für Freiheit und Recht. Den Toten die
Lebenden. Gewidmet 1899 von Sozialdemokraten
und Demokraten aus Deutschland und Amerika."
Und darunter eine Tafel: „Zur Erinnerung an
Carl Schurz, den edlen Kämpfer für Freiheit und
Recht."
Karl Schurz war in der Festung Rastatt eingeschlossen
. Im letzten Augenblick gelang ihm
eine abenteuerliche Flucht, über die er in seinen
Erinnerungen berichtet. Über den Stein und
seine Geschichte berichtet der katholische Dekan
Förderer, der während der Revolution in Rastatt
auf dem Gymnasium war, in seinen „Erinnerungen
aus Rastatt 1849", daß den standrechtlich
Hingerichteten weder Sarg noch Grabhügel gestattet
wurde. Im Jahre 1873 wollten Freunde
und Gesinnungsgenossen den Erschossenen einen
gemeinsamen Grabstein setzen. Die Großh. badischen
Behörden hatten nichts einzuwenden, aber
das Königl. preußische Gouvernement Rastatt
teilte dem Großh. Bezirksamt Rastatt mit, daß
allein das Gericht darüber zu bestimmen habe.
„Da nun das hiesige Gouvernementsgericht die
Nachfolgerin des vormaligen badischen Kriegsgerichts
ist, welches seinerzeit die betreffenden
Individuen zum Tode durch Erschießen verurteilt
hat, so wird die Genehmigung der Aufstellung
des Denkmals versagt. Der Gouverneur von
Gayl Generalleutnant." Der Dekan Förderer berichtet
, daß das Rastatter Standgericht, das im
Namen des Großherzogs von Baden urteilte,
merkwürdigerweise nur aus preußischen Militärs
bestand.
Die Übergabe der Festung Rastatt bedeutete
das Ende der Revolution 1848/49. Die Vorgänge
um den Gedenkstein sind bezeichnend für die
Einstellung der preußischen Militärbehörden
noch 1873. Man darf sich deshalb nicht wundern,
daß die Akten des Generallandesarchivs Karlsruhe
kaum Nachrichten über das Gefecht auf der
Scheideck haben, das am Anfang der Revolution
steht. Es ist nur die Rede vom Tode des Generals
von Gagern. Seine Familie hat ihm 1890 dort
oben auf der Scheideck einen Gedenkstein gesetzt
. Nun wissen wir aber, daß in jenem Gefecht
noch mehr Menschen das Leben ließen, daß sie
in Kandern in einem gemeinsamen Grab beigesetzt
wurden und daß dieses Grab 1870 noch vorhanden
war und von unbekannter Hand mit Blumen
geschmückt wurde. Wer über die allgemeinen
Fragen genauere Angaben will, sei -auf das
Buch von Veit Valentin „Geschichte der Deutschen
Revolution 1848 — 1849" verwiesen. Ich
zitiere daraus: „Auf der Scheideck bei Kandern,
am 20. April, erfolgte der Zusammenstoß von
Gagerns Truppen mit Heckers Freischar. Hecker
hatte sich das Zusammentreffen mit dem Militär
seit Tagen gewünscht — er wollte viel mehr, als
es besiegen; er wollte es durch die Macht seiner
Person und Rede für seine Sache gewinnen.
Friedrich von Gagern hatte genau denselben Gedanken
; auch er hatte seine Macht über Menschen
schon manchmal bewährt; auch ihm war
der Lorbeer des Politikers, der Irrende überzeugt
, lieber als der blutige Lorbeer des Soldaten
. So entwickelte sich der merkwürdige Vorgang
, daß zwei bewaffnete Haufen sich stundenlang
gegenüberstanden, der eine immer in der
Hoffnung, daß der andere sich herüberziehen
lassen werde. „Bekannt ist die Szene, wie beide
vorher auf der Brücke bei Kandern miteinander
sprachen. Und Veit Valentin kommentiert: „Ein
merkwürdiger Anblick: der General im patrizi-
schen Bürgerrock gegenüber dem Bürger in der
Uniform des Sozialrevolutionärs, der welterfahrene
, weitgereiste, politische Denker gegenüber
dem Träumer, dem eine ferne Zukunft näher war
als der Rhythmus der Gegenwart — aber beides
deutsche Männer von Eigenwuchs und quellender
Eigenart, die sich als Kollegen etwa in einem
Parlament stundenlang festgesprochen und womöglich
doch zu patriotischer Zusammenarbeit
gefunden hätten. Nun trafen sie sich nur dies eine
Mal in einem entlegenen Schwarzwaldwinkel und
vermochten sich nicht zu verstehen."
Für die Entschlossenheit von Gagerns, möglichst
kein Blut zu vergießen, habe ich jetzt einen
Zeugen entdeckt. Pfarrer Karl Müller in Betberg
schrieb am 14. Mai 1848 an Herrn Staatsrat
Mathy in Karlsruhe: der Bruder seines Tochtermanns
, der damals als Grenzzollgardist in
Neuenburg war, war dem General von Gagern
als Wegweiser zugeteilt worden für den Weg auf
die Scheideck. Er sei so nahe neben dem Pferd
des Generals gelaufen, daß sie mehrmals miteinander
gesprochen hätten. Er habe denselben,
weil er an der Spitze der Hessen vorausritt, wiederholt
gebeten, sich der Gefahr nicht zu sehr
auszusetzen. Aber der General habe jedesmal erwidert
, daß er die beste Hoffnung habe, die
Sache ohne Blutvergießen abzutun. Daraufhin
erhielt das Amt Bonndorf, wo der oben genannte
jetzt als berittener Grenzaufseher Dienst tat,
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