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2.
Volkstum ist, geschichtlich gesehen, Tradition;
Volkkunde ist also eine historische Wissenschaft.
Aber Volkskunde muß sowohl uralte, schier zeitlose
, weil immer gleiche Eigentümlichkeiten der
Völker beachten, als auch jeden Wandel und die
neuen Züge, die die Geschichte im Volksleben
ausprägt. Volkstum bietet sich nämlich zwar als
ein Gefüge statischer Kräfte dar, das die dynamischen
Kräfte der Geschichte aber bildeten und
stetig umbildeten.
Alle historischen Epochen haben im Volkstum
tiefe Spuren hinterlassen: die vorgeschichtliche
Eroberung Europas durch die Kelten, der vorchristliche
Orient, das antike Griechenland und
Rom, das nordeuropäische Germanentum, die
Slaven, das römische Christentum, das katholische
Mittelalter, die Reformation, das Barockzieit-
alter, die geistige Ernüchterung des Aufklärurugs-
zeitalters und der moderne Geist der Industrialisierung
, zumal Handel, Kriege, Kultur und Religion
stets die Völker und Kontinente miteinander
verbanden. Dazu trat die kulturelle Vormachtstellung
einzelner Völker, insbesondere im 18.
Jahrhundert die französische und in der Gegenwart
die amerikanische. Jede neue Schicht an
Kulturgut, die sich im Laufe der Zeiten im Volkstum
ablagerte, breitete sich über die alte und verschmolz
schließlich mit ihr weitgehend zu einer
Einheit oder erstrebte wenigstens diese Einheit,
wenn sie nicht viel Tradition zuschüttete und erstickte
; mancher dieser Vorgänge ist noch nicht
abgeschlossen, was die Gegenwart so oft zeigt.
Im Rahmen einer historischen Volkskunde
hätte allerdings noch eine stärkere Auswertung
der Quellen und Urkunden zu erfolgen, die die
privaten und staatlichen Archive aufbewahren.
Auch die lebendige mündliche Überlieferung ist
historisch wichtig. Sitte und Brauch, Kleidung
und Lebensideale unserer Dörfer weisen in den
letzten Jahrzehnten einen starken Wandel auf.
Gerade, die ältere Generation, die heute in Dörfern
lebt, ist der Zeuge dieses Vorganges, der
unter allen Umständen stärker als bisher festgehalten
werden sollte. Museen und vor allem Heimatmuseen
bieten viel Anschauungsmaterial zur
historischen Volkskunde.
Eine besondere fesselnde Form der historischen Volkskunde
ist ihr kirchengeschichtlicher Zweig, über den vor
allem zahlreiche Stichwörter im „Lexikon für Theologie
und Kirche" (2. Aufl. herausgegeben von Josef Höfer und
Karl Rahner, 10 Bde. Freiburg i. Br. 1957 — 1965) Auskunft
geben. Je tiefer die historische Volkstumsforschung in die
Vergangenheit eindringt, desto stärker entdeckt sie eine
Welt, in der die Kirche und der Alltag, die Frömmigkeit
und das Leben keine wie heute getrennten Bereiche sind,
sondern unzerreißbare Einheit bildeten. Klöster, Wallfahrtsorte
, Wallfahrtskirchen waren (vor der Reformation
überall, während des Barockzeitalters und seitdem fast
nur in Süddeutschland, Österreich und Spanien) Mittelpunkte
eines quirlenden Volkslebens, jedoch ebenso die
legendenumwobene einsame Wald- oder Bergkapelle, ja
oft sogar ein Bildstock an einer durch Wundererzählungen
geheiligten Stätte, der die Menschen zu gemeinsamem
Gebet anzog. Gerade beim religiösen Brauchtum entwik-
kelten die Völker und Landschaften, die Städte und Dörfer
, und seit der Reformation desgleichen die Konfessionen
ihre Eigenarten, die die christlichen Kirchen wie jede
andere religiöse Betätigung gerne förderten. (Ein volkskundlich
ergebnisträchtiges Sondergebiet öffnet darüber
hinaus der katholische Heiligenkult, weil er tief in die
Sorgen und Nöte der Menschen hineinblicken läßt. Zwischen
Mensch und Gott treten — nach der offiziellen Lehre
der katholischen Kirche — als Vermittler die Heiligen,
bei denen der Gläubige im Bittgebet Hilfe sucht).
Österreich führt — das sei neidlos anerkannt — schon
seit langem auf dem Gebiet der kirchengeschichtlichen
und religiösen Volkskunde.
3.
Wirtschaftliche, technische und politische Entwicklungen
verändern unentwegt den Bevölke-
runigsaufbau.
Wer ergreift hier jedoch oft, um dies zu untersuchen
, zuerst die wissenschaftliche Initiative?
Nicht die Volkskunde, sondern die Soziologie, die
sich daher in der Öffentlichkeit einen machtvollen
Geltungsbereich zu sichern wußte. Sie untersucht
statistisch Veränderungen in der Zusammensetzung
der Bevölkerung. Sie vor allem beobachtet
, wie die politischen und wirtschaftlichen
Zeitverhältnisse den Lebensstil und die Lebensauffassung
der Menschen prägen und wie der Lebensstil
und die Lebensauffassung der Menschen
wiederum die Zeitverhältnisse mitbestimmen.
Soziologische Umfragen sind hier wichtig.
Meinungsforscher reisen umher, oft mit Fragebogen
, führen zwanglose Gespräche mit Gewährsleuten
und erkunden so die Meinung und Lebensweise
breiter Volkskreise, ein Verfahren, das
auch die Volkskunde gelegentlich erfolgreich anwandte
. Zeitungen, Zeitschriften und Bücher werden
ferner in wissenschaftlichen soziologischen
Instituten auf kennzeichnende Tatsachenberichte
hin durchsiebt.
Jedesmal wenn die Stimmung der Öffentlichkeit
umschlägt (und zwar nicht nur bei politischen
Wahlen), jedesmal wenn die Menschen sich anders
als früher verhalten, versuchen die Soziologen
mit diesen und weiteren Methoden, die Ursachen
, die Folgen und die Tatsachen selbst zu
beschreiben und zu verstehen. So aber werden
ihre Feststellungen Dokumente zur Zeitgeschichte
, die oft schon wenige Jahre später historischen
Wert besitzen.
Die Soziologie der Großstadt zeigt das Leben des modernen
Menschen in einem typischen Wechsel von individueller
Freiheit und von persönlicher und überpersönlicher
Bindung, wie er es beständig am Arbeitsplatz, in der
Familie, in der Nachbarschaft, unter seinem Bekanntenkreis
, als Mitglied einer Organisation, als Angehöriger
einer Kirche erlebt. Die Agrarsoziologie führt in die ver-,
wickelten Beziehungen zwischen Stadt und Dorf, Industrie
und Landwirtschaft. Damit deckt sie die Lebensproblematik
des Einzelbauern, der bäuerlichen Familie und des
Dorfes zwischen Natur und Technik auf, so daß man ohne
Agrarsoziologie das ständige Miteinander und Gegeneinander
von Tradition und Fortschritt in einem großen Teil
unseres Volkes, nämlich unter der Landbevölkerung,
kaum noch begreift Die Industrie- und Betriebssoziologie
dagegen untersucht nicht nur das schwierigkeitsreiche
Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter, sondern
ebenfalls die verschieden Weisen der Überordnung, Unterordnung
und Solidarität in der Fabrik und die Beziehungen
zwischen dem einzelnen Industriewerk und der
Bevölkerung, die die Umgebung der Werkanlagen bewohnt
, während die Familiensoziologie sich den wechselnden
Idealen und Formen der Ehe und ihrer Rolle für
die Öffentlichkeit widmet. Daß eine rechte und schlechte
Erziehung durch die Eltern immer noch am meisten die
Entwicklung des Kindes fördert, dürfte eine bedeutende
praktische Erkenntnis der Familiensoziologie sein!
(Schluß folgt.)
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