Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., J 3366,go-1946/48
Le Messager du Rhin: Almanach pour 1946
Colmar, 1946.1945
Seite: 38
(PDF, 29 MB)
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LE MESSAGER DU RHIN

späte Gewissen, die bisher aus taktischen Gründen
schweigen mußten : die Türkei und Aegypten erklären
Deutschland den Krieg. Am gleichen Tage, oder vielmehr
in der Nacht strömen die Menschen in Alexandrien
auf die Straßen und umarmen sich. Ein zufälliger
Kurzschluß ließ die Sirenen heulen und der erwachende
Aegypter glaubte, endlich sei der Frieden in der Welt
eingekehrt.

Sturmkähne brausen über die Saar und... in Mülhausen
besteigt man zum ersten Mal wieder die Micheline:
der Zugverkehr Mülhausen—Paris ist wieder hergestellt.
Ende Februar! Die Russen sind in Posen, Forbach ist
befreit, ein deutsche- Angriff auf den Straßburger
Hafen abgewiesen. Das Elsaß vernimmt erstmals wieder
die Stimme seines Bischofs Mgr Ruch, der in einem
Hirtenbrief den Geist des Hasses j nem der Liebe gegenüberstellt
, vernimmt aber auch die Stimme der Regierung
, die die Jahrgänge 1940, 41 und 42 einberuft.
Während Berlin und Tokio unter dem pausenlosen
Bombenhagel alliierter Flugzeuge erzittern, ziehen im
Elsaß Freiwillige und Einberufene begeistert unter die
Waffen. Langsam regt sich der Pulsschlag der Arbeit
wieder, man beginnt in den Trümmern zu wühlen und
flickt die Dächer und Löcher aus. Nach und nach
nimmt auch das politische Leben im Elsass seinen Gang.
Vom nahen Basel aber — am 5. März — kommt die
Hiobsbotschaft eines versehentlichen Bombardements
und von Paris die wenig erfreuliche Kunde, daß der
Wiederaufbau Frankreichs 2000 Milliarden kosten und
9 Jahre mit 60 Arbeitsstunden pro Woche oder 13 Jahre
mit 48 Arbeitsstunden dauern wird. Zwei Tage später
beginnt die russische Großoffensive auf Berlin und
stehen die Männer Schukows bereits an der Odermündung
. Welches Herz schlug jedoch nicht höher, als
an diesem 20. März Rundfunk und Presse die frohe
Botschaft brachten, daß Frankreich wieder feindfrei
ist, daß der letzte Landser und mit ihm die letzten
zivilen Kulturbringer aus dem Elsaß flüchteten und
General De Lattre an der Spitze seiner unvergleichlichen
Premiere Armee die deutsche Grenze passierte. Man
lachte ob der da und dort noch aufgefundenen Propagandazettel
mit der schon eher humorigen Schlagzeile
: « Elsässer bleibt treu! Wir kommen wieder! »
Kurz vorher hatte im Elsaß der Geldumtausch stattgefunden
. Die Portefeuilles wurden dicker, aber leider
nicht schwerer.

Es geht dem Ende zu. Man spürt es förmlich. Im
Westen haben die Alliierten bereits mehrere Brückenköpfe
über den Rhein errichtet und während sie in
Duisburg einmarschieren, werden in einer Londoner
Villa an der Bahre eines großen Politikers des ersten
Weltkrieges zwei Lichter angezündet : Lloyd Georges
war soeben im Alter von 82 Jahren verstorben. Hat der
Gegenspieler Clemenceaus auf dem Schachbrett der internationalen
Politik nach 1918 seinen verhängnisvollen
Irrtum zuletzt noch eingesehen?...

Die ersten warmen Sonnenstrahlen brechen durch.
Der «Wehrwolf» heult ohnmächtig in den Wäldern des
besetzten Deutschland. Das hindert weder die Amerikaner
noch die Engländer noch die Russen, ihren Zielen
zuzustreben. Die 1. französische Armee aber setzt
ihren glorreichen Vormarsch in Baden fort.

Wir schreiben den 14. April. Eine Trauerkunde, die
die ganze gesittete Welt mit tiefem Schmerz erfüllt,
erreicht uns aus Washington. Roosevelt ist nicht mehr:
ein Staatsmann, der es verstand, in verhältnismäßig
kurzer Zeit die ungeheuren Kräfte seines großen, freien
Landes zu mobilisieren, um der Weltpest des XX. Jahrhunderts
den Todesstoß zu versetzen. Die ganze Welt
wußte: hätte dieser Mann und sein Volk nur einen einzigen
Moment gezögert, hätte er in dieser fernen westlichen
Hemisphäre den Vorhang der Nichteinmischung
gezogen, das Schicksal hätte vermutlich anders bestimmt
, und Europa wäre auf Generationen hinaus ein
Zuchthaus gewesen, in dem es nur eine Freiheit gegeben
hätte, die zu schweigen, zu schuften und zu sterben
. Roosevelt wird als einer der größten Männer in
die Geschichte eingehen.

Die Tage schwinden, die Zeit bleibt nicht stehen.
De Lattre auch nicht. Er stößt in der badischen Ebene
weiter vor, erobert Kehl und befreit damit Straßburg
vor jeder weiteren Bedrohung. Irgendwo in der Ruhrtasche
gibt sich die graue Eminenz des 3. Reiches,
Von Papen, der Mann, der im Südosten scheiterte —
was ihm wohl Hitler nie verzieh — gefangen. Mit der
Eroberung von Nürnberg ist das Reich in zwei Teile
gespalten. Die Russen stehen in Sichtweite von Berlin.
Auf was warten sie noch? Selbst der deutsche Landser
vorne im Graben frägt: wozu? Sein Führer aber schlüpft
in den sichersten, feudalsten Bunker Berlins, setzt den
dicken Reichsmarschall ab und übernimmt den Oberbefehl
. Am gleichen Tage bricht die Italienfront zusammen
und wird der glorreiche Rom-Marschierer von 1920, der
Künder des Faszismus in Europa, der Held, der 1940,
zwei Tage vor dem Zusammenbruch, Frankreich in den
Rücken fiel, wird Mussolini gefangen genommen. Zu
gleicher Zeit steht ein müder Greis auf Helvetiens neutralem
Boden und grübelt über seine verhängnisvolle Politik
in Vichy nach. Dann bittet er den Mann, den er
vor Jahren als Verräter zum Tode verurteilen ließ, um
die Erlaubnis sich stellen zu dürfen : Philippe Petain.

Der Kirschbaum steht in seiner weißen Blütenpracht,
Flur und Feld sind eine leuchtende Farbensinfonie, dort
wo die Panzer den zarten Kelch der Blumen nicht zerstampfte
. An diesem ersten Maientag überstürzen sich
die Ereignisse. Hitler, das « Genie des XX. Jahrhunderts
», der Stürmer auf den Landkarten der Stabsbesprechungen
, der zornige Polterer auf der Rednertribüne
, der Träumer von Berchtesgaden und der blutige
Geist im Jammer der Konzentrationslager, dieser
Hitler, auf den Millionen Verblendeter schwörten,
nahm im Bunker der Reichskanzlei seine anonyme Geliebte
zur Frau, um dann als letzter Ausweg vor seiner
grauenvollen Hinterlassenschaft die erlösende Todespille
zu verschlucken. « Hitler gefallen », schrieb an diesem
Tage der dünne OKW-Bericht. Die Lüge behauptete
sich bis zum Schluß. Mit ihm, unrühmlich wie er,
versank auch Goebbels, der Prediger seines Evangeliums
. Dönitz, zum Nachfolger ausgerufen, soll das sinkende
Schiff noch irgendwie retten. Berlin ist gefallen
und in Mailand hängt Mussolini an einem Pfahl.


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