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LE MESSAGER DU RHIN
und Blatternkranken Hilfe und Obdach. Er war die
populärste und verehrteste Persönlichkeit Straß-
burgs.
Seine geistige und religiöse Tätigkeit jedoch
überragte alles andere. Damals hatte der Prediger
ein weites Arbeitsgebiet. Es war das Ende des
Mittelalters, eine Zeit sank ins Grab, eine neue
Epoche drang herauf. Niedergang und Verfall
kennzeichneten Sitten und Gebräuche, Gebet und
Religiosität. Viel Neues
brodelte unter der Dek-
ke, suchte nach Form
und Ausdruck. Es war
kein leichtes Beginnen,
diesem Treiben Einhalt
gebieten zu wollen. Unaufhaltsam
steuerte das
Schiff der Christenheit
einer Katastrophe zu.
Die Menschen jener
Zeit, besonders die gebildeten
, waren nicht
unreligiös, sondern die
Besten gerade verlangten
das Verlassen der
alten, ausgeleierten und
ausgetretenen Bahnen,
sie wollten Reformen,
eine Gesundung der religiösen
und kirchlichen
Zustände. Und in diesem
Kampfe stand während
mehr als dreißig
Jahren Geiler von Kay-
sersberg in der ersten
Reihe.
Er verstand es, zum
Volke zu sprechen, und
bald war das Straßburger
Münster mit Zuhörern
überfüllt. Weniger
fallen in Geilers Predigten
die Originalität und
Neuheit der Gedanken
auf, als seine Kraft,
seine gesunden Ansichten
, seine volkstümliche, oft derbe Sprache, seine
kernigen Aussprüche, der Reichtum seiner Bilder,
die treffenden, aus dem Leben des Volkes genommenen
Beispiele, die scharfe Beobachtungsgabe,
sein Humor und sein beißender Spott, besonders
aber auch sein nie erlahmender Eifer für das Gute,
zu Gottführende. Die meisten seiner Predigten
wurden nach seinem Tode veröffentlicht und vermitteln
uns noch heute die Kraft seiner Persönlichkeit
; die Titel schon zeigen uns das Tätigkeits-
IOANNES GEYLERVS CAESAR1 SBEFu
gtus,Argentmenfis Ecclefix Conctonator.
Sacra docens,fidei monfiro tibi lunitnafanäa,
Qlar'm Argjropz mox hAbitura decus.
H. D. X. B *j
feld des Predigers an, wie z. B. «Das irrig Schaf»,
«Der hellisch low», «Das Klappermaul», «Der Has
im Pfeffer», «Die Emeis», die «Brosämlein»,
«Seelenparadies» und manch andere. Er verlangte
die Abkehr von den Mißbräuchen und wollte eine
neugekräftigte, neubeseelte, von den Mißständen
gesäuberte Kirche, jedoch keine Trennung von
ihr. Die Kirche war ja ein so hehres, wunderbar
gefügtes Gebäude,
und seine Frömmigkeit
erlaubte ihm keine
Zweifel; seine Vorbilder
waren die Mystiker,
Tauler und Suso, sowie
der fromme Gerson,
Kanzler der Universität
Paris. Geiler kann wohl
zu den Vorläufern der
Reformation gerechnet
werden, jedoch im Geiste
unterscheidet er sich
weit von den Reformatoren
, die mit der Kirche
brachen.
Er ließ seine laute
Stimme erschallen, um
die Menschen zur Einkehr
zu bewegen, er
geißelte die Mißbrauche,
hielt seiner Zeit ihre
zahlreichen Gebrechen
vor, und nahm auch
kein Blatt vor den Mund
um die Schäden in der
Kirche selbst zu zeigen.
Er donnerte und wetterte
gegen den oberflächlichen
und unfähigen
Klerus, gegen die Weltlichkeit
in den Klöstern.
Er sagte ohne Umschweife
den Laien,
Männern und Frauen,
die Wahrheit ins Gesicht
. Er war der große
Rufer und Mahner, die Posaune, die unablässig
hinausruft in die Christenheit. Er war der größte
und eindringlichste Prediger seiner Zeit. Er hat
gewußt, um was es ging. Seine Zeitgenossen aber
haben nicht auf ihn gehört. Bis die große Katastrophe
hereinbrach.
Auch heute, nach fünfhundert Jahren, hätte uns
Geiler von Kaysersberg vieles, sehr vieles zu sagen.
Es soll nur jeder ein wenig über sich selbst nachdenken
. L. Sittler.
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