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KREUZ UND QUER D[URC
SER LAND
„7Wa CNormandie
Die Normandie ist eine der am meisten durch
den Krieg betroffenen und verwüsteten Provinzen
Frankreichs. Ich habe sie seit langem nicht wiedergesehen
, meine Normandie, und doch trage ich in
mir die schönsten Erinnerungen an diese Gegend.
Es war wenige Jahre vor dem Kriege. Ich war
nicht sehr bei Kasse, dafür aber jung und durch Sorgen
unbeschwert. Meine Schwester, die damals in
Caen studierte, empfahl mich einer befreundeten
Familie, ein Kollege wollte mich in Vire erwarten,
also gondelte ich los.
In Rouen klingelte ich an der Türe der Familie
P... und kam unter die Obhut der Tochter, die mit
meiner Schwester die «Alma Mater» besuchte.
Diese Obhut war allerdings keine unangenehme,
denn Henriette war ein sehr adrettes Mädchen,
anfangs zwanzig, schlank, elegant, ziemlich burschikos
und nicht auf den Mund gefallen. Wir gingen
durch die alten, engen Gassen, wir besuchten
die Kirchen. Die Gotik lebte auf, wunderschön,
einfach und wieder vielverschlungen, mächtig und
hoch, leicht und fein: Die Kathedrale Notre-
Dame, St-Maclou, St-Ouen, ein Gotteshaus sprechender
als das andere; ich lauschte der Mädchenstimme
:
«... Feine, schlanke Hochgotik. Ins Unendliche
streben die Säulen, die normannischen Baumeister
waren waghalsige Männer; sind sie doch Nachkommen
jener wilden Wikinger, denen auf ihren
Drachenschiffen kein Meer zu weit, kein Sturm zu
dräuend war. Und auch im Äußeren zeigt sich das:
Blut, Leben, Innigkeit, Feuer wußten die Künstler
in den Stein zu legen. Und das ist dann wie ein
erstarrtes Wunder. Die Spätgotik, die man oft
schmäht, hat hier in Rouen ihre volle Entfaltung
erreicht: so im Portal von St-Maclou mit den sich
aufwärtswindenden Flammen, dem Rufen und Singen
des Steins, und den sozusagen durchsichtigen,
ganz in sich verschlingenden Ranken, so im luftigen
, zur Höhe springenden Turm von Notre-Dame,
ein Freudenfest der Kunst. Dazu diese reiche Ornamentik
, die Blumen, Wasserspeier, Krabben, Türmchen
, Fialen, und die ganze wunderbare Welt der
Statuen und Statuetten.»
Da fragte ich Henriette: «Was studieren Sie
eigentlich? Doch sicher Kunstgeschichte?»
«Wieso denn?» antwortete sie verblüfft. «Nein,
Chemie und Naturwissenschaften!»
«Ich glaubte, entschuldigen Sie, Ihre Kenntnis,
Ihre Begeisterung!» Ich wurde rot vor Verlegenheit
. Sie lachte mich aus...
Am Tage darauf besuchten wie Caen. Die Stadt
gefiel mir allerdings nicht recht, hingegen sehr die
Kirchen, besonders St-Etienne. Und am meisten,
überhaupt auch sonst in der Normandie, diese
charakteristischen Kirchtürme: klotzig und doch
nicht schwerfällig, aber mächtig, scharfkantig,
viereckig, kühn zur Höhe springend, ohne Verzierungen
fast, außer den mitlaufenden, feinen und
schlanken Säulchen, die das Aufwärtsstreben noch
betonen. Diese Bilder bleiben unvergeßlich. Dieses
Mal brauchte Henriette nichts zu sprechen.
Wir fuhren im Auto ihrer Eltern durch das normannische
Land. Das war ein herrlicher Abend.
Der Wind hatte den Horizont blank gepuzt, unter
frischblauem Himmel zogen weiße Wolken von
Westen, vom Meere her, ganz rein und weiß, man
meinte, sie seien eben aus dem Meeresbad gestiegen
. Fruchtbar lag das Land: Felder mit großen,
breiten Strohschobern, Wiesen mit weidendem
Vieh, die normannischen Fennen unregelmäßig
zerstreut, oft noch mit Stroh gedeckt, durch lange
Reihen hoher, rauschender Pappeln, Rüstern,
Ulmen vor dem Meereswind geschützt. Apfelbäume
winkten überall. Die Sonne sank gegen
Westen.
Ein anderes Mal fuhren wir durch das «Bocage
normand», das alte, von den Stürmen der Zeit
ganz zerfetzte Massif Armoricain. Überall Bäume
und dichte Hecken, die Felder und Wiesen umschließen
, weite Rücken, von tiefen Tälern zerschnitten
, besonders die «Vaux de Vire», zu denen
die grauen Granitfelsen steil abfallen. In den Dörfern
leuchten überall Blumen, Rosen, Nelken, Li-
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