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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
34.1972, Heft 1/2.1972
Seite: 58
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1972-01-02/0060
suchte, Neuenweg fluchte, am meisten der Adlerwirt. Das Hofgericht in Rastatt
vertagte den Beweistermin und zeigte in dieser Haltung bereits Taktik und Strategie
der Rechtsprechung von heute. Die Neuenweger, im offenen Kampf mit dem
heuhungrigen Pfarrhaus, scheuten weder den weiten Weg talauswärts noch die
Strafen des Oberamtes; sie verrichteten teilweise ihr sonntägliches Gebet in Tegernau
und schlössen es mit dem gedanklichen Stoßseufzer „. . . und vergiß unser
Heu nit". Es hagelte Zensurstrafen, von welchen die eigenen Zensurrichter nicht
ausgenommen waren. Die Richter mußten im Juni 1805 rückwirkend für jeden
Kirchgang auswärts nach Tegernau 24 Kreuzer, die verheirateten Bürger 15 Kreuzer
und die Ledigen 12 Kreuzer bezahlen. Pfarrer Fischer war in der ersten Hälfte
des Jahres 1805 nicht nur auf der Suche nach Prozeßbeweisen, er suchte auch die
Personalien der Abtrünnigen, die seine Sonntagspredigt verschmähten. Vermittelnd
griff das Oberamt Badenweiler (zu welchem die Vogtei Neuenweg vorübergehend
gehörte) ein und führte Friedensverhandlungen mit dem ev.-luth. Kirchenratskollegium
. Zwischenzeitlich müssen sich die Neuenweger mit Tegernau oder
Bürchau in Verbindung gesetzt haben. Sie beriefen sich schlagartig auf die Urkunde
vom Jahre 1430. Die kalte Dusche kam jäh, denn lt. Protokoll wurde dem
Sachverwalter des Ortes bedeutet, „daß diese für ihn wertlos sei". Selbst 1972
kann kein Schuldner eine Schuld bestreiten, wenn er sie längst beglichen hat. Für
Neuenweg hieß das 100 Jahre zu spät! Auf Weisung des Hofgerichts verglich
Badenweiler die streitenden Parteien. Man schrieb inzwischen 1806. Neuenweg
kapitulierte und stimmte den „zwei Matten", die es dem Pfarrer an Stelle von
Heu geben soll, schlitzohrig zu. Entsetzen ergriff den geistlichen Herrn, als er nach
Unterzeichnung des Vergleichsprotokolls die zwei Matten serviert bekam; „die
eine lag auf einem gähen Berg, hatte keinen Wässerungsgraben und war voller
Steine, die andere lag unten im Tal und war voller Felsen". So schrieb Pfarrer
Fischer verzweifelt dem Kirchenrat Gockel im Mai 1806.

Das „wenn scho — denn scho" brachte Neuenweg kein Glück, der Vergleich
wurde für Null und nichtig erklärt, die Akte zurück nach Rastatt geschickt. Verwundert
hielten Vogt und Stab die gerichtliche Vorladung in den arbeitsharten
Fäusten, die sie auf Donnerstag, den 8. Januar 1807, in die Hofkanzlei nach Rastatt
befahl. Mit dem Advokaten Lindemann in der Mitte, mittags schlag zwei Uhr,
erschienen die Wälderbauern zum Termin und verloren den Prozeß in Bausch und
Bogen. Das Urteil schlug wenige Wochen später im Dorf wie eine Bombe ein;
d Wiiber hän ihri Brägelpfanne vom Herd gno, d Männe ihre Charscht in Schopf
gstellt, d Chinder großi Auge gmacht, wie s Büsiwetter isch de Ruef vo Hus zue
Hus „hän dr s scho ghört?", bis hintere an d Belchehöf und ufe in Heubrunn.
Nicht nur der zehnte Teil des künftigen Heus war dem gelehrten Herrn Pfarrer
sicher, lt. Urteil hatte er auch Anspruch auf den zehnten Teil der vergangenen vier
Jahre, den das Wäldervieh bereits zehntlos verschlungen hatte. Die hohen Prozeßkosten
gingen zu Lasten der Gemeinde. Pfarrer Fischer war indessen heumüde.
Obwohl ihm die Gemeinde zwei Matten anbot, die durchaus akzeptabel waren,
bat er um Versetzung. Der Nachfolger einigte sich gütlich mit Neuenweg und
bezog den Heuzehnten wiederum in Geld.

Neuenweg war zu allen Zeiten eines der ärmsten Dörfer des Kleinen Wiesentales
. In den Akten als „rauher, entlegener Gräntzort" beschrieben, von der Geistlichkeit
als „badisches Sibirien" verschrien, laut Bestandsaufnahme von 1773 „mit
wenig fruchtbarem Ackerfeld" versehen, lebten die Bewohner, die sich durch Kinderreichtum
auszeichneten, in dem Jahrhundert, da sie den 10. Heuschochen verzinsten
, hauptsächlich von „Milch, geschwellten Erdäpfeln, Rüben, Saubohnen und
an den Feiertägen etwas Speck". Ausgerechnet dieses Jahr verlor Neuenweg als
einzige bisher festgestellte Gemeinde des hinteren und mittleren Kleinen Wiesentales
sein Heuzehntfreiheitsrecht fünf Generationen früher als die Nachbardörfer,
die alle, gleich Neuenweg, letzten Endes im Heu das Stüde Brot ehrten, das ihnen
die Muttererde nicht ausreichend bot.

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