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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
38.1976, Heft 3/4.1976
Seite: 193
(PDF, 38 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1976-03-04/0011
II.

In den Jahrzehnten, in denen Herders Ideen über Volksliteraturen zur Aufzeichnung
und Sammlung mündlicher epischer und lyrischer Überlieferungen vor
allem im europäischen Osten und Südosten anregen, wäre im deutschen Sprachgebiet
vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Fritz Reuter und Klaus Groth durch
ihre Werke das Plattdeutsche zu literarischem Rang erheben, kein vergleichbares
Zeugnis von Dialektliteratur zu nennen, wenn nicht der nach Karlsruhe verschlagene
Prälat Johann Peter Hebel sich, vom Heimweh nach dem alemannischen
Oberland beunruhigt, entschlossen hätte, Gedichte in der Mundart seiner Heimat
zu schreiben. Das war um das Jahr 1801.

Gattungen, Versmaße, rhetorische Figuren entnimmt er jahrhundertealter Tradition
. Insofern ist seine Dichtung gelehrt. Den Dialekt wählt er mit der Begründung
, daß er „in dieser zerfallenden Ruine der altdeutschen Sprache noch
die Spuren ihres Umrisses und Gefüges" aufsuchen wolle, daß er in der Mundart
eine Sprache finde, die „an das Alterthum unserer dunkleren Jahrhunderte" grenze.
Hier ist der Zusammenhang mit den Vorstellungen Herders und seiner Nachfolger
offenbar. Das Eigentümliche und Unwiederholbare in Hebels „Alemannischen
Gedichten", die er 1803 publiziert, ist, daß sie einer geschichtlichen Grenzsituation
entstammen. Ihre Sprache ist eine Mundart, aus deren Verwendung
und Pflege er gelegentlich sogar einen Schaden für die Einheit der deutschen
Sprache erwachsen sieht, „durch eine zu eifrige Provinzial Cultur der Dialekte".
Aber diese Sprache ist zugleich ein Gebilde, in dem die gemeinsame Ursprache
lebt und damit mehr als ein Zeugnis eines absterbenden, nur als kuriose Randerscheinung
zu wertenden Sprachgebrauchs. So betonen auch Goethe und Jean
Paul die Spezifität des Dialekts, empfinden vieles als unverständlich, raten für
die weniger Kundigen zu Worterklärungen und „Umschreibungen" — wie auch
Hebel selbst empfiehlt, seine Gedichte „ins Hochdeutsche hinüberzudichten". Aber
Goethe räumt zugleich dem Autor „einen eigenen Platz auf dem deutschen
Parnass" ein. Für ihn sind die „Alemannischen Gedichte" im Sinne Herders ein
Stück Nationalliteratur und damit der Weltliteratur zugehörig. Der Widerspruch
ist nur scheinbar. Für die Gebildeten des beginnenden 19. Jahrhunderts ist der
zur Literatursprache erhobene Dialekt noch ein Zeugnis der Ausdrucksvielfalt
des einen deutschen Idioms und zugleich eine nicht mehr allgemein verständliche
Regionalsprache.

Dieses Sprachbewußtsein, in dem hochsprachliche und mundartliche Literatur
noch zusammengehören, hat keinen langen Bestand. Die Romantik hält es nicht
lebendig. Die eigenständig gewordene, ausdrucksmächtige hochsprachliche Literatur
läßt — von dem Sonderphänomen der plattdeutschen Renaissance um die Jahrhundertmitte
abgesehen — keine Hebel kongeniale Dialektliteratur mehr aufkommen
. Hoffmann von Fallerslebens alemannische Gedichte sind eine liebenswerte
Kuriosität. Die Mundarten provinzialisieren sich. Die in den Städten sich
ausbildenden dialektisch geprägten „Honoratiorenidiome" haben nicht die Neigung
, eigene Literaturen zu schaffen. Die politischen Einheitsbestrebungen befördern
die Verbindlichkeit der Hochsprache. Die Attraktion der aufstrebenden
bürgerlichen Industriegesellschaft in Deutschland bis zur Reichsgründung ist so
groß, daß auch in der Schweiz keine nennenswerte Mundartliteratur entsteht; die
bedeutenden Autoren wie Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer leisten
ihr keinen Tribut. Jeremias Gotthelf ist mit seiner vom Dialekt kräftig genährten
Diktion ein hochsprachlicher Autor.

III.

Der „Wiederkehr der Dialekte" hat kürzlich der „Spiegel" einen Bericht gewidmet
(Nr. 17, 19. April 1976). Der Katalog von Erscheinungen, die als Be-

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