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sprüngliche zum Grund- und Prüfstein der Dichtung. Das Volkstümliche wird bei
ihm zur Quelle alles Echten, auch auf sprachlichem Gebiet. Er sammelte alte Volkslieder
, veröffentlichte sie in seinem Sammelband „Stimmen der Völker in Liedern"
(1807) und forderte seine Zeitgenossen auf, das Gleiche zu tun. So hat der junge
Goethe während seiner Straßburger Studienzeit elsässische Volkslieder auf den
Lippen alter Mütterchen zusammengelesen und dadurch den echten Volksliedton
gefunden, der dann in seinem „Mailied" und im „Heidenröslein" aufklang.
Auf Grund seiner Neuwertung des Ursprünglichen wandte sich Herder unter
anderem gegen die starke Überfremdung des Deutschen durch das Französische,
zumal Sprache und Volk in seinen Augen untrennbar waren, betont er doch:
„Kein größerer Schaden kann einer Nation zugefügt werden, als wenn man ihr
den Nationalcharakter, die Eigenheit ihres Geistes und ihrer Sprache raubt".
Die Liebe zum Ursprünglichen, ein starkes Nationalgefühl und die Rückwen-
dung zur Vergangenheit sind die drei Hauptideen, die aus Herders Werk auf die
Romantiker wie revolutionäre Impulse wirkten. Alles Volkstümliche erhielt dadurch
aufs neue Aufwertung und Antrieb. Hingebungsvoll wurden Volkslieder.
Märchen und Sagen gesammelt, und es entstand eine Welle archaisierender Schriftsteller
, die vom Hainbund an über Hebel und Kolbenheyer noch nicht verebbt ist.
Auch die alte Volkssprache wurde erforscht, und zwar von den Brüdern Grimm,
die somit den Grundstein zur deutschen Germanistik legten.
So groß aber auch die Neigung der Romantiker zum Archaismus war, so blieb
es doch bei einer künstlerischen Nachbildung des Alten. Wohl haben Arnim
(1781 —1831) und Brentano (1778—1842) in ihrem bekannten Sammelband „Des
Knaben Wunderhorn" (1806—1808) in einzelnen Liedern Mundartliches anklingen
lassen, es war jedoch eine perspektivische Täuschung in den Grenzen der
poetischen Illusion, denn in demselben Liederband wurde die Sprache beharrlicht
genormt und modernisiert.
Der schwäbische, sehr heimatverbundene Dichter Uhland (1787—1862), der
ebenfalls viel Archaisierendes in seine originellen Werke aufnahm, fand mit
seinem volksliedhaften Ton starken Anklang, und der Schwarzwaldsänger Hebel
(1760—1826) löste mit seinen „Alemannischen Gedichten" (1803) sogar langanhaltende
Begeisterung für heimische Landschaft und Mundart aus.
All diese Versuche, die alte Volkssprache zu rehabilitieren, trugen gewiß dazu
bei, die Mundartdichtung salonfähig zu machen, verhinderten aber die Hochsprache
nicht daran, die bereits errungenen Stellungen in Verwaltung, Kirche.
Schule, Theater und Presse zu festigen, dies um so mehr, als in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts die deutschen Volksstämme unter Preußens Führung die
längst angestrebte politische Einheit verwirklichten, welche der einheitlichen
Schriftsprache nicht nur mehr Gewicht verlieh, sondern sie sogar zum unumgänglichen
Werkzeug überprovinzieller Zusammenarbeit und nationaler Koordinierung
machte.
Während also das Hochdeutsche im 18. Jahrhundert noch vornehmlich eine
geschriebene Sprache war, wurde sie im Laufe des 19. Jahrhunderts nach und nach
eine gesprochene Sprache, hauptsächlich in der oberen Schicht und in den Großstädten
. Obwohl in jeder Landschaft die entsprechende Mundart weiterlebte, waren
die meisten Deutschen immer mehr imstande, die in der Schule erlernte Hochsprache
zu sprechen, in der Aussprache natürlich noch stark provinziell, in Bezug
auf Wortschatz, Gestaltlehre jedoch ziemlich korrekt.
Wie heute, so waren es schon damals Dichter und Denker, Politiker und Theaterkünstler
, die durch Schreiben und Sprechen dem Volk das Mustergültige angaben
. Von Generation zu Generation bereicherten sie den Wortschatz und
lockerten den Satzbau auf.
Um seine politische Unabhängigkeit dem deutschen Reich gegenüber hervorzuheben
, hat man in Österreich und in der Schweiz aus Nationalstolz ureigene
sprachliche Merkmale lange beibehalten, sowohl auf phonetischem als auch auf
lexikalischem Gebiet.
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