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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
41.1979, Heft 1/2.1979
Seite: 172
(PDF, 39 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1979-01-02/0178
solange nicht zu denken, bis die unterbäuerliche Schicht zur Aufnahme dieser Arbeit
motiviert werden konnte.

In den Reborten seien die Tagelöhner auf das Spinnen oder eine fabrikindustrielle
Tätigkeit nicht angewiesen gewesen. Dies leitet Straub aus der günstigen Wirtschaftsentwicklung
und dem dadurch gestiegenen „Wohlstand" der Bevölkerung ab. Der Landvogt
von Wallbrunn beklagte sich am 31. 1. 1766 beispielsweise, „Wann der Bauer nicht
muß, so regt er weder Hand noch Fuß . . . Das Wort Fabric aber ist ihnen gar unbekannt
oder verhaßt." Auch der Versuch, Spinnschulen in den Dörfern einzuführen, um
wenigstens die Kinder an diese Arbeit zu gewöhnen, scheiterte in den meisten Orten
noch Jahre und Jahrzehnte lang. Erst als die wirtschaftliche Situation in den „Waldorten
" gegenüber den „Reborten" immer ungünstiger wurde, eine „Entwicklungsschere"
sich auftat, seien in ersteren die Unterschichten mehr und mehr gezwungen gewesen, eine
industrielle Tätigkeit anzunehmen.

An dieser Stelle müssen einige kritische Anmerkungen zu Straub gemacht werden:
Der hier unternommene Versuch, konkretes Verhalten einzelner Personen auf deren
wirtschaftliche Situation zurückzuführen, erscheint noch nicht genügend belegt. Zum einen
fehlt in der Arbeit Straubs eine Untersuchung über die tatsächliche wirtschaftliche
Situation der Unterschicht in den Wald- und Reborten. Wenn für erstere gilt, daß sie
aufgrund ihrer Subsistenzwirtschaft nicht am Marktgeschehen teilhaben konnte (s. o.), so
muß das prinzipiell auch für die Unterschicht der Reborte gelten. Somit ist also der
Nachweis größeren „Wohlstands" nur für die bäuerliche Schicht, die auf dem Markt
Gewinne erzielen konnte, erbracht, nicht aber für die unterbäuerliche. Das zu erklärende
Phänomen ist ja gerade, warum die Menschen nicht bereit waren, eine Spinnarbeit anzunehmen
, obwohl es ihnen nicht gut ging. Allerdings mag insgesamt die Feststellung
Straubs, daß im „Sommerland" durch die günstige Agrarkonjunktur die Unterschicht
weiterhin von der Landwirtschaft existieren konnte, richtig sein; in den Waldorten hingegen
sah die Situation insgesamt schlechter aus, wenn auch von einer „Proletarisierung",
wie Straub meint, kaum die Rede sein kann. Ob die Situation der Unterschicht in den
Reborten hingegen, um es zu wiederholen, wirklich so günstig war, wie Straub mehr oder
minder deutlich formuliert, ist zweifelhaft: Zum einen ist hier das Problem der steigenden
Bevölkerungszahlen und fortgeschrittenen Realteilung anzuführen, zum anderen auch der
Umstand, daß die Ärmsten am Wenigsten von der Allmende, von den landwirtschaftlichen
Verbesserungen und anderen wirtschaftlichen Quellen profitierten.

Entscheidend für das Verhalten der Spinnarbeit gegenüber also konnten nicht nur
wirtschaftliche Erwägungen sein, sondern, wie Straub selbst feststellt, ein durch die ganze
Lebenslage hervorgerufenes Bewußtsein insgesamt ist hier ein entscheidender Faktor.

Wie dieses Bewußtsein bestimmt war, und aus welcher Situation heraus es entstand,
hat Straub bereits angedeutet, (s. o.) Darüber hinaus muß aber darauf hingewiesen
werden, daß hier ein ganzes Faktorenbündel zu berücksichtigen ist:

Die bei der negativen Beurteilung der Spinnarbeit durch die gesamte Landbevölkerung
— nicht nur ihrer Armenschicht — wirksam werdenden Normen und Werte haben ihren
Ursprung in einer traditionellen „Dorfkultur". Das Dorf im 18. Jahrhundert war nicht nur
eine wirtschaftliche Einheit, sondern auch eine soziale Einheit, in der den Heranwachsenden
entweder naturhafr oder durch Erziehung übereinstimmende Normen und Werte
vermittelt wurden. Dies impliziert nicht, daß es im Dorf keine sozialen Unterschiede gab,
sondern nur, daß es höchstens Ansätze einer schichtspezifischen Sozialisation gab, insgesamt
das Dorf aber ein für alle verbindliches Sozialisationsgefüge darstellte. Innerhalb
dieser „Dorfkultur" wurde nun das Spinnen negativ bewertet: Dies scheint seine Ursache
zum einen darin zu haben, daß es ungewohnt war, und, als hauptsächliche Ernährungsquelle
im Gegensatz zur althergebrachten landwirtschaftlichen Arbeit stand. Zum anderen
war auch das Sozialprestige, das mit der Ausübung dieser Tätigkeit verbunden war,
gering, denn es galt als „Arme-Leute-Arbeit" bzw. als Arbeit von Zuchthäuslern. So
wurde es nur als Nebenerwerb vor allem für Frauen im Rahmen der traditionellen
Hauswirtschaft akzeptiert, es galt als Frauenarbeit; durchaus im Gegensatz zum
Stricken, das weit eher als Unterrichtsgegenstand auch für Knaben angenommen wurde.

Die traditionelle „Mentalität" konstituierte sich also in einem Bezugsrahmen „Dorf".
Er ist durch gemeinsame Bewirtschaftsform ebenso gekennzeichnet wie durch die Bräuche
und Sitten des Nachbarschaftsverbandes, des lokalen Marktes und der Gruppe der Jugendlichen
. (Zu dieser Frage vgl. Arbeiten von Berce, Braun, Hobsbowm und Thompson).

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