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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
46.1984, Heft 1.1984
Seite: 8
(PDF, 35 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1984-01/0010
vember -: »Zum erstenmal lag ich, geborgen, Deutschland am Herzen.«^21 Sein Bekenntnis
zu Deutschland ist ein Bekenntnis zur sozialen Revolution, deren Verwirklichung
er damals (vergeblich, wie sich bald zeigen sollte) in Deutschland erhoffte. Es erwuchs
dem gleichen Antrieb, der ihn vor 1914 stets nach Frankreich als dem Mutterlande
der liberalen Freiheiten und der Menschenrechte blicken ließ. Nun, im Jahre 1919, meinte
er - jedenfalls einen Augenblick lang -, die erneut verschobene Grenzlage seiner Heimat
auf eine neue, soziologisch und ideologisch veränderte Weise deuten zu können:
»Die Grenze ist geblieben, wie sie immer die Grenze war, ob das Elsaß im Handel der
Parteien nach Osten oder nach Westen geschlagen ward. Bis zum gestrigen Tage schied
sie das autokratische Europa vom liberalen. Heute bildet sie die Brustwehr zwischen
dem sozialistischen und dem kapitalistischen Europa.«33'

Aber auch dieses, im Herbst 1919 geschriebene politische Bekenntnis Schickeies, mit
dem er eine Neuauflage der Schreie auf dem Boulevard einleitet, mündet in die Wiederholung
seiner ältesten und beständigsten »elsässischen« Einsicht, die von dem damaligen
Haßklima in bemerkenswerter Weise abstach:34^

»Davon habe ich heute ... nichts zurückzunehmen - und nur hinzuzufügen, daß die
Notwendigkeit einer Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich im selben
Maße gewachsen ist, wie sich mit jedem Schlag und Gegenschlag im Verlaufe des Krieges
und mit jeder Zuckung der Nationen und Klassen im nachkriegerischen Europa die Alternative
zugespitzt hat: gemeinsamer Untergang oder gemeinsamer Neubau, Abdankung
vor der Barbarei, in die Not und Verzweiflung uns stürzen könnten, oder gemeinsame
Übernahme der Führung in Europa aus dem Chaos in Ordnung. Es gibt aber keine
Ordnung, als die einer freiwachsenden Gemeinschaft, eines Sozialismus mit hellem,
friedlichem Menschengesicht.«

Sehr schnell aber sollte sich herausstellen, wie weit vorausgreifend und daher wie vorzeitig
diese Einsichten und Hoffnungen Schickeies zu jener Zeit noch waren. Enttäuscht
kehrt der Dichter bereits 1919 wieder in die Schweiz zurück. Dort kann er sich, wegen
der in Deutschland ausbrechenden Inflation, nicht mehr lange halten. So wendet er sich
endlich wieder dem oberrheinischen Heimatraum zu, geht aber nicht ins Elsaß zurück,
das in der Nachwirkung des Krieges der Gefahr eines kulturellen Provinzialismus ausgesetzt
ist, sondern siedelt sich auf der badischen Seite an. Er baut sich ein Haus in Badenweiler
, das ihm den »Blick auf die Vogesen« gewährt, wie er im Titel zum zweiten Teil
der großen Roman-Trilogie wiederkehren sollte, die hier entsteht.35) Auch der kleinere
Roman Symphonie für Jazz, der das hektische Leben der europäischen Gesellschaft in
den Zwanzigerjahren widerspiegelt, gehört zu den Früchten jenes für Schickele vielleicht
glücklichsten Jahrzehnts, das er in dieser Landschaft, über den Hügeln des Markgräfler-
landes, verlebt.36) Die Wunden der nationalen Gegensätze scheinen in der kurzen, durch
den »Geist von Locarno« geprägten Ära der späteren Zwanziger jähre langsam heilen zu
wollen; Schickeies europäische Perspektiven, vom Hartmannsweilerkopf aus visionär
erahnt, in der Rede auf Romain Rolland an der Gestalt eines persönlichen Vorbildes entfaltet
, rufen nach Verwirklichung, um die sich im politischen Bereich, allerdings gegen
eine Flut von Anfeindungen, auch Aristide Briand und Gustav Stresemann zu bemühen
suchen. Rene Schickele dient ihr mit seinem epischen wie mit seinem essayistischen
Werk, unter dem sich damals besonders häufig auch politische Beiträge finden.

V.

Was der eingangs zitierte Text aus der Rundreise eines fröhlichen Christenmenschen
gleichsam programmatisch ausdrückt, das steht unausgesprochen hinter fast jeder Zeile,
die Schickele damals geschrieben hat; es bestimmt auch seine persönliche Lebenshaltung
. »Grenze« bedeutet für ihn Brücke, Medium des Austausches, Verbindungsglied
zweier sich ergänzender nationaler Individualitäten, ja sie erscheint ihm als Basis einer

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