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höheren geistigen und menschlichen Einheit. Schon vor 1914 hatte er deren Verwirklichung
in einem sich ergänzenden Miteinander von Deutschland und Frankreich ersehnt,
wobei er, wie wir schon hörten, für Deutschland eine Demokratisierung und Verwestlichung
im Sinne einer inneren Aneignung der »Marseillaise« als des Freiheitssvmbols der
bürgerlichen Revolution anstrebte. Die Pariser Feuilletons der Schreie auf dem Boulevard
sind Bekenntnisse eines Europäers, ja eines Weltbürgers, der selbst in dem größeren
Rahmen Europas noch die Gefahr überheblicher Eingrenzungen zu wittern vermochte
.
Als Europäer, als Weltbürger, als Sozialist gewann Schickele, nach seiner einsamen
und zunächst kaum verstandenen Bewährung während des ersten Weltkrieges, auch seine
engere Heimat, die 1918 wieder ihren staatlichen Besitzer gewechselt hatte, in einem
tieferen Sinne zurück: seit 1921 an den Hängen des Schwarzwaldes, in Badenweiler, neu
angesiedelt und auf die nahen Vogesen hinüberblickend, schuf er deren dichterisches
Denkmal in der Romantrilogie Das Erbe am Rhein?'1 Dieses breit angelegte Werk kann
nicht nur, nach den Worten Thomas Manns, als »das mit feiner und starker Künstlerhand
gebildete Standardwerk elsässischer Landschaft und elsässischer Seelenlage« gelten
;38^ es war tatsächlich, in seiner politisch-gesellschaftlichen Relevanz, ein europäisches
Dokument der Zwanzigerjahre. Innerhalb der deutschen Literatur jenes Zeitraums
erscheint es dem heutigen Rückblick als ein unmittelbares Gegenstück zu Hans Grimms
Volk ohne Raum,i9) diesem so wirkungsreichen Erfolgsbuch aus dem Jahre 1926, worin
der deutsch-bürgerliche Provinzialismus seine imperialistischen Sehnsüchte enthüllte
und die deutschtümelnde Heimatideologie (»Heimat und Enge«) in koloniale Expansionslust
umschlug (»Deutscher Raum«, »Das Volk ohne Raum«). Ähnlich wie Moeller
van den Brucks wenige Jahre zuvor erschienene, politisch-spekulative Pamphletschrift
Das dritte ReichAy} lieferte der Roman des Sonderlings von Lippoldsberg, gewollt oder
ungewollt, dem aufkommenden deutschen Faschismus einige der einprägsamsten demagogischen
Schlagworte. Im Gegensatz hierzu ist Schickeies Trilogie ohne Ressentiments
und ohne Parteilichkeit, wenn auch nicht ohne Pathos geschrieben. Ein lockerer,
manchmal fast lyrischer Stil, der gelegentlich auch das Mondäne streift, zeichnet sie aus;
eine Klarheit der Vernunft waltet über der Absicht des Ganzen und bestimmt vor allem
die immer wieder durchbrechenden politischen Reflexionen. Gerade diese Vernunfthelle
aber hat man hierzulande allzu häufig als etwas Oberflächlich-Schillerndes, Undeutsch
-Welsches, Zweideutig-Laszives verdächtigt. Dennoch ist gerade wegen dieser
Eigenschaft Das Erbe am Rhein - so sehr es stilistisch und inhaltlich den Zwanzigerjahren
verhaftet bleibt - nicht nur frischer und lesbarer geblieben als Hans Grimms schon zu
seiner Entstehungszeit anachronistischer Roman; es hat auch, in seiner Nachwirkung,
geschichtlich recht behalten.
Am Beispiel einer elsässischen Familie und ihrer in das Zeitgeschehen der Vor- und
Nachkriegszeit verwobenen Geschicke - im äußeren Rahmen also nicht ohne gewisse
Entsprechungen zu Volk ohne Raum - versucht Schickele in dieser Trilogie vor allem das
westeuropäische Grundproblem des deutsch-französischen Verhältnisses darzustellen,
wie es sich in den Verhältnissen des Grenzlandes am Oberrhein spiegelt. Als Lösung und
Ziel erscheint die jeder Gewalt widersagende Verbrüderung. Dies ist ganz wörtlich gemeint
. Nicht von ungefähr sind es immer wieder verwandtschaftliche Bindungen, geschwisterliche
Konfigurationen oder Liebesbeziehungen, worin die tiefere Zusammengehörigkeit
auch des Gegensätzlichen zum Ausdruck kommt. So stehen sich im Drama
vom Hans im Schnakenloch die beiden Brüder Hans und Balthasar gegenüber, von denen
im Augenblick der Entscheidung - 1914 - der Ältere sich Frankreich zuwendet,
während der Jüngere, Balthasar, ganz auf die deutsche Seite tritt. Der Gegensatz der Nationen
reißt hier einen engen Familienzusammenhalt auseinander und zerstört darüber
hinaus die Ehe von Hans, der, zwischen seiner deutschen Frau Klär und seiner französischen
Geliebten Louise Cavrel stehend, äußerlich schwankend und ungetreu erscheint,
in Wahrheit aber der seelisch differenziertere, daher in seinen Empfindungen ambivalen-
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