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te Sohn zweier Völker, Temperamente und Traditionen ist. Das Kriegsdrama Schickeies
wird also zum Gleichnis für das Unnatürliche, ja Unmenschliche eines als Bruderzwist
begriffenen Völkerstreites.
Auch im Erbe am Rhein beherrscht der Gegensatz eines Brüderpaares vor allem den
zweiten Teil der Trilogie, Blick auf die Vogesen. Er nährt sich gleichfalls aus der unglückseligen
Feindschaft der beiden Nachbarvölker, deren Opfer immer wieder das Land zwischen
Rhein und Vogesen gewesen ist, reflektiert ihn aber hauptsächlich in den unterschiedlichen
Verhaltensweisen der beiden Brüder. Ernst Breuschheim, der Ältere, erscheint
als der Typus des skrupellosen Opportunisten, der sich vom einstigen deutschen
Offizier zum Verfechter einer starr französisch orientierten Politik entwickelt. Sein jüngerer
Stiefbruder Claus hingegen - wie Hans Boulanger der Einfühlsamere der Brüder -
sucht, trotz seiner inneren Hinneigung zu Frankreich, den Ausgleich in einer höheren,
die nationalen Gegensätze überwindenden Synthese.
So wird die Heimat der »erfundenen« Familie Breuschheim in der Vision des Dichters,
die der Held des Romans verkörpert, zum eigentlichen Modell einer künftigen »Gemeinschaft
Europa«. Leidenschaftlich bricht schließlich aus einem der Dialoge die Aufforderung
an die beiden Nachbarvölker heraus, die gleichsam die Quintessenz des Erbes
am Rhein wiedergibt:41'
»Wie wär's, ihr Narren, wenn ihr euch zum Besseren kehrtet und unser unaufhörlich
von euch beranntes Land und die beiden Kammern unseres Herzens zum Unterpfand
eurer Freundschaft machtet, wenn ihr erklärtet: das Land zwischen Schwarzwald und
Vogesen ist der gemeinsame Garten, worin deutscher und französischer Geist ungehindert
verkehren, sich einer am anderen prüfen und die gemeinsamen Werke errichten, die
neuen Denkmäler Europas - dies ist der Tempel unseres ewigen Friedens?«
Damit aber gewinnt in Schickeies oberrheinischer Trilogie die Vorstellung von »Heimat
« einen überregionalen Charakter; sie verweist menschlich, räumlich und geschichtlich
in weitere und vielgestaltige Bezüge. W'ill man Das Erbe am Rhein dennoch als
»Heimatdichtung« bezeichnen, so ist dies nur unter der Voraussetzung möglich, daß
dieser Begriff in Schickeies Werk seiner provinziellen Einengung enthoben, von jeder
nationalistischen Ideologisierung befreit und unter der Perspektive des Europäischen
neu begründet werden konnte.
VI.
»Menschen und Umstände können uns die Heimat verstellen, so daß wir nicht zu ihr
hinfinden, sie verloren geben.« Das hatte Schickele am Ende seines in Badenweiler verbrachten
Jahrzehnts, ahnungsvoll und nicht einmal ohne geheimen Vorwurf gegen seinen
eigenen Zweifel, niedergeschrieben.42' Der Text, worin sich diese Zeilen finden, huldigt
noch einmal dem als Landschaft erlebten Heimatraum, den Schickele bereits im
Herbst 1932, die böse Heraufkunft Hitlers vor Augen, endgültig verlassen sollte. Nach
der schöpferischen und menschlichen Erfüllung der späten Zwanzigerjahre wurde ihm
doch noch der bittere Verlust der oberrheinischen Heimat und seines Hauses am
Schwarzwaldrande zugemutet.
Die Erfahrung der »abgründigen Gemeinheit dessen, was sich in Deutschland Politik
nennt«,43' und der von Anfang an offenbaren Unmenschlichkeit des neuen Regimes hat
den Menschenfreund und Pazifisten Schickele tief aufgewühlt und innerlich verwandelt.
Sein Welt- und Menschenbild wird düsterer; Bitterkeit, Schmerz und Enttäuschung setzen
seiner eingeborenen Heiterkeit vielfältig zu. Eine gewisse Milderung erfuhr sein Exil
nur dadurch, daß es ihm eine Rückkehr in die Welt der mütterlichen Herkunft ermöglichte
. So nannte er auch sein letztes, französisch geschriebenes Erinnerungsbuch Le retour
. In dieser Hinsicht unterschied er sich von der übrigen deutschen Emigration, die er
daher distanzierter und gelassener zu beurteilen vermochte - etwa im Falle der innerlich
noch schwereren Ablösung Thomas Manns von seiner deutschen Heimat.
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