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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
52.1990, Heft 2.1990
Seite: 148
(PDF, 30 MB)
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dient vielmehr dazu, das Leben auf seine Möglichkeiten und Zuträglichkeiten hin zuzuspitzen:
"Dieses Eisen. Was härte daraus werden können?", sinniert Hebel in der unausgeführten Skizze
"Die Gewehrfabrike". "Aber es ist - ein Feuerrohr. Unglückliche Waffe...Wert eines Menschenlebens
. Mühe der Erziehung. Aussichten des Jünglings. Ein Moment! - und es ist alles
vorüber!" Oder denken wir an das Schicksal der fünf Jaunen die der Leser gleich zu Beginn
der "Vereitelten Rachsucht" an einem Aste baumeln sieht - "und warens in der ersten
Viertelstunde gleich so gewohnt, daß keiner mehr herabverlangte". Zuviel auf der Welt ist von
dieser fatalen Endgültigkeit und Unwiderruflichkeit: die Morde nicht nur und das, was
Herrschaft den Menschen antut, auch die ungewordenen Möglichkeiten, das versäumte Glück

- alles andere ist immer in Gefahr.

Dieses Bewußtsein bildet recht eigentlich den tieferen Grund allen hebelschen Erzählens.
Um was anderes wäre es dem Rheinländischen Hausfreund zu tun, als aus dem schlimmen
Endgültigen uns einen moralischen Zins gutzuschreiben, und aus dem, was immer in Gefahr
ist, eine "Bürgschaft für das Beste" abzuzweigen: "Wie oft hätte es zu einem Totschlag
gereicht, und hat doch nur zu einem Betteln um etwas Liebe geführt". Weil der überwiegende
Erzählaufwand Hebels in diesem Widerspruch gegen das "ewige, wiederkehrende Einerlei
eines schlechten Schauspiels" zu suchen ist. liegen die eigentlichen Schauplätze stets inwendig

- dort also, wos bisweilen auch etwas ungerad hergehen soll. Von daher die Beständigkeit
des Zweifels in den Kalendergeschichten, ihre Tendenz zum Offenen und Unabgeschlossenen,
die Beharrlichkeit ihres Infragestellens, die Unablässigkeit ihrer listigen Attacken auf das, was
man die "Trägheit des Herzens" nennt, auf die korrumpierende Macht der Gewöhnung, auf das
Abstumpfen unserer Neugier und die moralische Ermüdbarkeit. Aber auch nichts leichter, als
diese Herausforderung in Hebels Werk kleinzuschreiben - hat doch noch niemand ein
gewinnenderes Programm der Selbstprüfung entworfen als er: keine unwiderstehlichere
Einladung, sich selber zu mißtrauen, kein verbindlicheres Störpotential gegen die "perennierenden
Torheiten" als seine Kalendergeschichten, keine verbindlicheren Widerworte gegen
die so reale Möglichkeit, "das Menschengeschlecht könne einmal für nichts und wieder nichts
dagewesen sein", kein nachhaltigeres Abschminken der Rollen, die wir uns zurechtgelegt
haben, kein schalkhafterer Erzieher als dieser, der keiner ist: "Der Hausfreund hat mir eine
Lehre erteilt". - "Lügst Du wieder? Willst Du noch eine?"

So stellt sich die Hebel oft nachgesagte Unentschiedenheit als Fähigkeit heraus, Gegensätze
seiner Zeit nicht fruchtlos gegeneinander auszuspielen, sondern zu unserem Nutzen
aufeinander zu beziehen. Zwischen ihnen hat Hebel einen ganzen literarischen Kosmos
entfaltet, in dem er sich den avanciertesten Möglichkeiten seiner Epoche gestellt hat, ohne
sich ihren Versprechen haltlos auszuliefern. In diesem Kosmos hat die Forderung, sich seines
Verstandes zu bedienen, so gut Platz wie Hebels frommes "Ignorabimus" und die Abkehr von
aller Hybris: "Geneigter Pilger, diese Lichter" - Hebel meint damit die Sterne - "diese Lichter
sind nicht wegen Deiner angezündet". Das Abendrot am Himmel eines alemannischen
Arkadien gehört so dazu wie die Belchen-Vision. in der sich der Mensch mit seinem eigenen
Untergang konfrontiert sieht. Was es aber Hebel angesichts unserer späten Kultur, ihrer
länger werdenden Schatten heute zu schreiben drängte? Ob er nicht überhaupt in Schweigen
verfallen wäre - keine Kalendergeschichte mehr nach Auschwitz! -: ob ihn nicht längst eine
schreibhemmende Verstörung ergriffen hätte angesichts unseres Irrwegs des angemaßten
Wissens, ob ihn unser blutiges Jahrhundert nicht doch in die Resignation getrieben hätte, ob
seine pädagogische Utopie einer Gesellschaft standgehalten hätte, die gar nicht mehr
aufgeklärt sein möchte, ja - ob Hebel nicht gar einer recht christlich zu nennenden, weil jeden
Christenmenschen von heute auszeichnenden Verzweiflung anheimgefallen wäre und selber
des Trostes bedürfte, wie ihn seine Geschichten anderen einmal gespendet haben...? Ich denke,
auch solche Fragen gehören zum Bild unseres Dichters, das es offenzuhalten gilt gegen alle

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