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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
53.1991, Heft 2.1991
Seite: 85
(PDF, 32 MB)
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seiner Lörracher Zeit stark, wenn auch als sittliches Problem. 1952 aber machte Raphael -
noch immer im amerikanischen Exil - wahr, was er sein Leben lang nur theoretisch bedacht
hatte. Er war den psychischen Spannungen und äußeren Anforderungen seiner Existenz nicht
länger gewachsen, und sein Tod ist als Selbstbesiegelung eines Lebens zu verstehen, dem
auch noch eine posthume Kenntnisnahme und Würdigung lange versagt schien.

Dieses vorgreifende Lebensresümee erschien notwendig, um den inneren Zusammenhang
von Raphaels Leben mit den biographischen Konstellationen seiner Lörracher Episode
sichtbar werden zu lassen. Denn unter dem Signum der äußersten Sensitivität und permanenten
Gefährdung, denen Raphael in seinem New Yorker Exil nicht länger gewachsen war.
steht auch jede Zeile, die er während seiner Lörracher Militärzeit seinem Tagebuch
anvertraut hat - bildete dieses Tagebuch doch "von Anfang an ein Aufbegehren gegen die
äußere machtbestimmte Welt (soweit sie sich seiner Beeinflussung entzog) und gegen
persönliche Entwicklungen, die nicht seinem Ideal eines ausschließlich für sein Werk
lebenden Gelehrten entsprachen" ( S. 38). Noch in den Bodmaner Passagen des Tagebuchs
hatte Raphael registriert, daß sich "nicht nur die Dummen von Tag zu Tag mit leeren
Hoffnungen vertrösten (lassen)...Selbst die Schaffenden geben sich schwatzhaft dazu her.
diese zu immer größerer Enge erstickende Gegenwart mit erlogenen Phrasen zu beschönigen
und anzupreisen" (S. 53). Was Raphael anklagte, war die Korrumpierbarkeit des Intellekts
durch den nationalen Machtrausch, der "das intellektuelle und moralische Urteil völlig
vernichtet" (S. 54) hat. Wie Beobachtung und Analyse bei Raphael stets eng verzahnt sind,
fragt er auch hier nach dem zugrundeliegenden Verhältnis des einzelnen zum Staat: "Kann
das Individuum, das - da es im Staat, vom Staat, vermöge des Staates lebt - die Pflicht hat.
ihn zu erhalten, sich von dieser Pflicht durch eine höhere entbunden fühlen? Kann der Staat,
als überindividuelle Macht, sich als der schlechthin höchste Wert des Daseins aufspielen und
an jeden einzelnen Forderungen für seine Selbsterhaltung stellen?" (S. 59). Raphael kommt
zu der Einsicht, daß der Staat "Bruchwerk bleibt, solange er die Entwicklungsmöglichkeiten
des Einzelnen nach seinen staatsbürgerlichen Pflichten bemißt, daß andererseits der Einzelne
sich nicht zu vollenden vermag, ohne daß er sein individuelles Wesen in der
Gemeinschaft der Menschen und ihrer staatlichen Ordnung verwirklicht" (S. 60). Die
gesamte Problemstellung "Individuum oder Staat" erscheint Raphael somit falsch, weil der
Wertmaßstab "für beide...außer und über ihnen liegen" muß. "weil der Mensch nicht nur ein
individuelles oder soziales Wesen ist, sondern ein individuelles und soziales und
schöpferisches" (S. 60). Dieses individuelle, soziale und schöpferische Potential hat Raphael
in seiner eigenen Person als Kennzeichen des Menschlichen zu verdeutlichen und
gegen die Anforderungen des Staates und seines militärischen Apparats aufrechtzuerhalten
versucht. Daß er mit diesem ungleichen Kampf indes nur das erste Kapitel einer "Tragödie
des geistigen Menschen" eröffnete - und zwar auf eine völlig entgegengesetzte Weise, als er
dies dichterisch in einer "ekstatischen Glückstunde" utopisch-sieghaft erträumt hatte (4) -
bewies sich bald nach seinem Einrücken in Lörrach. Dabei war er sich der Tiefe des
Einschnitts bewußt, den die Militärzeit bedeuten würde, wie die Eintragung am Tage der
Einberufung beweist: "Abends mit der letzten Post bekam ich einen Gestellungsbefehl. Ich
habe einen ganzen Tag zum Verpacken meines bisherigen Lebens" (S. 63). Auch wenn
Raphael es als bittere Ironie empfinden mußte, daß seinesgleichen - nicht geschaffen. Habe
zu erwerben, ja sich ihrer auch nur zu erfreuen - für "einen Machtkitzel anderer ihren
Lebensweg zerschlagen" lassen muß -: auch wenn er die "sinnvolle Leidensfähigkeit, die uns
umso reicher macht, je schwerer wir an den Dingen tragen", als das "gerade Gegenteil des
Leidens an undurchsichtigen Sinnlosigkeiten" präzise zu unterscheiden wußte, so zeigte er
sich doch bereit, die Einberufung als "ein zu meiner Selbstvollendung notwendiges Schicksal
" (S. 63) zu akzeptieren.

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