Universitätsbibliothek Freiburg i. Br., H 4688,fm
Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
53.1991, Heft 2.1991
Seite: 89
(PDF, 32 MB)
Bibliographische Information
Startseite des Bandes
Zugehörige Bände
Regionalia

  (z. B.: IV, 145, xii)



Lizenz: Creative Commons - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0
Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1991-02/0091
ein fesselnder Blick ins Kandertal bot. Da es mir unter dem zerdrückenden Gewicht des
Erlebten nicht gelingen wollte, das Schweben zwischen den starken Kontrasten der blauen
Schwarzwaldberge und des lichten Rheintals in mir festzuhalten, verweilte ich länger" (S.
73). So sehr Raphael schließlich den Gang auf den Hünerberg oder die Burg Rötteln der
Aussichten wegen liebte - zu Lörrach selbst hatte er, zumindest anfangs, ein wenig
schmeichelhaftes Verhältnis. Anläßlich eines Gangs an die Wiese - "um meine Sehnsucht
nach dem Wasser zu befrieden" - notierte er: "Der Ort macht einen abscheulich zwiespältigen
Eindruck: zwischen Stadt und Land, zwischen Gebirge und Ebene, zwischen Deutschland
und der Schweiz, zwischen Tradition und völliger Kulturlosigkeit. Was für Menschen
müssen aus diesem schwankenden Grenzgebilde aufwachsen! Keiner wagte mich fest
anzuschauen, als hätte jeder ein schlechtes Gewissen. Ich sah kein schönes oder auch nur
reizvolles Mädchen. Was kann eine solche Stadt der Häßlichkeit moralisch wert sein?" (S.
77 f). In ihrer Gnadenlosigkeit erinnern solche Sätze an die physiognomisch orientierte
Kulturkritik jener Jahre - ähnliche Urteile in Bezug auf die Grenzbevölkerung gibt es auch
von der damals in Säckingen wohnhaften Margarete Susman oder in Max Picards "Menschengesicht
" - sie sind aber auch offenkundige Belege der Isoliertheit Max Raphaels, einer
Einsamkeit im tieferen Sinne des Wortes. Denn das Tagebuch, dem er sich anvertraute, ist
oft das einzige Kommunikationsmittel. Nicht nur. daß es Raphaels Erfahrungen und
Analysen mit plausibler Prägnanz und gedanklichem Tiefgang aufnimmt, daß es den Bogen
von der kennzeichnenden Einzelheit zum großen geschichtlichen Zusammenhang zu schlagen
vermag - es gibt wohl auch nur wenige Selbstzeugnisse, in denen ein Autor seine eigene
Situation so schonungslos reflektiert und moralisch weitertreibt, bis die Widersprüche
unaushaltbar und persönliche Konsequenzen unausweichlich werden: das Tagebuch als die
wahrhaftigste Form, "die Ergebnisse eines Willens zu sammeln" (S. 14).

Ganz blieben diese "Ergebnisse eines Willens" freilich nicht von Gesprächspartnern
unbeeinflußt, deren - naturgemäß - nur wenige waren. Während Raphael in den meisten nur
"gutwillige Mitläufer" des Militarismus erkannte oder aber trittbrettfahrende Nutznießer in
diesem "größten Schwindel der Weltgeschichte" (S. 127), erwies sich die Bekanntschaft mit
einem nicht näher identifizierten J. als ein wahrer Katalysator von Raphaels eigener Haltung.
J. erzählte ihm nämlich die Geschichte seiner Dienstzeit - den ununterbrochenen und
grausamen Kampf "einer innerlichen und geistigen Natur gegen das System des Militarismus
und des Machtstaates" (S. 138) - die mit den Worten endet: "Meine Verzweiflung suchte noch
einmal einen gew altsamen Ausweg - aber ich mußte erkennen, daß meine Kraft nicht nur zum
Denken, sondern auch zum Handeln untergraben war. Ich war zum Selbstmord wie zur
Fahnenflucht zu schwach geworden. Damals habe ich meine Begabung verfluchen und
meine Arbeit hassen gelernt. Sie hatten mich mit ehernen Krallen und lockenden Lügen
gehindert, anständig und mit der Würde als Mensch zu sterben. Jetzt lebe ich, mir selbst
abhanden gekommen, wie ein Hund, den man tritt, wie ein Schuft, den man wie dreckige
Wäsche auswringt. Ich bin nur noch ein lebender Leichnam, der nichts sehnlicher wünscht,
als einzuschlafen und nicht mehr zu erwachen" (S. 145 f). Nur zwei Tage nach diesem
Gespräch war es Raphael, als habe der Bericht J.s "die letzte Schranke fast weggestoßen, die
sich künstlich genug der inneren Stimme entgegengestemmt hatte" (S. 147). "...Wild peitscht
J.s Bericht mein Blut, daß es gärt und kocht, um dann plötzlich seine ganze Leidenschaft in
ein Wort zu strudeln, das mich vor allen anderen packte, und nun wühlt und frißt und
nagt...Unheimlich nagt das Wort und zernagt mir alle Heimat, allen lieben Besitz...Fahnenflucht!
- In mir tobt und brandet Pflicht gegen Pflicht. Wunsch, Wille, Neigung..." (S. 146). Es
dauerte noch anderthalb Jahre, ehe Raphael diesem Gedanken nachgab und seine Desertion
in die Tat umgesetzt hat: in seinen Notizbüchern vermerkt er unter dem 17. Juni 1917:
"mittags 1 1/4 Uhr. Zürich. Am 14. Juni bin ich desertiert. Ich begab mich über Posten 3 nach


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1991-02/0091