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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
54.1992, Heft 2.1992
Seite: 176
(PDF, 34 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1992-02/0178
markgräfler Dorf Grenzach, das seit dem 13. Jahrhundert als Exklave zur Herrschaft Rötteln
und später zur Markgrafschaft gehörte. Hier wohnten die ähnlichen Bauern und Rebleute,
wie sie Hebel beschrieben hat, und all die Sorgen des Landmannes haben wir in unserer
Familie selbst erlebt. Im alten Grenzach gab es auch die ähnlichen Eulenspiegelgestalten und
Spitzbuben, wie wir sie aus dem "Schatzkästlein" kennen und wo sie vom Dichter mit so viel
Sympathie dargestellt sind.

Später, im Krieg und in der Gefangenschaft, war es dann oft ein hebelscher Vers, der die
Sehnsucht nach daheim noch verstärkte. Und wenn ich dann vor mich hin sagte: "Und uus der
Haimet chunnt der Schii. s'mueß liebli in der Haimet sii". dann entsprach dies nicht ganz der
Situation, da Hebel ja die himmlische Heimat gemeint hat. Aber auch für die irdische Heimat
stimmten diese Verse kaum noch, denn von dort kam lange Monate nicht einmal eine Karte,
und lieblich war sie auch nicht mehr, die Heimat, denn dort herrschte Besetzung und Hunger.
Schuldbewußtsein und Flucht vor der Verantwortung. Ratlosigkeit. Verzweiflung und auch
Haß. Umso schöner war es dann, als sich am 12. Mai 1946 beim Hebeltag in Lörrach zeigte,
daß sich die Menschen von diesseits und jenseits der Grenze wieder zusammenfanden und man
nach Jahren der Trennung und Entfremdung seine Verwandten und Bekannten wieder zu sehen
bekam. Damals ging mir erstmals etwas auf von der integrierenden und versöhnenden Kraft
dieses großen alemannischen Dichters.

Im Germanistikstudium drüben in Basel und später in Tübingen und Freiburg lernte ich
dann. Hebel zusammen mit den großen Realisten deutscher Zunge zu sehen. Dabei erkannte
ich, daß sich auch Keller und Gotthelf. Mörike und Stifter, Storni und Raabe fast ausschließlich
auf den engen Bereich ihrer Heimat beschränkten, ohne dabei im geringsten provinziell
zu werden. Dies war eine wichtige Erkenntnis, denn nun sah ich auch Hebel plötzlich viel
umfassender und nicht nur als Dichter des Wiesentals und Markgräflerlandes. Die Erkenntnis
, daß sich etwa in Gotthelfs Emmental, in Kellers schweizerischem Mittelland oder in
Mörikes Schwaben und Stifters Bayerisch-Böhmischem Wald keine nebensächlichen Begebenheiten
ereignen, sondern daß an den dichterischen Gestalten dieser begrenzten Landschaften
alle große Themen der Menschheit, wie Freude und Leid, Liebe und Schuld.
Leidenschaft und Entsagung. Not und Angst aufgezeigt werden können, brachte eine
entscheidende Wendung in meiner Beurteilung Hebels.

Auch die Darstellung der Idylle verlor nun ihre negative Beurteilung, denn letztlich ist sie
doch nur eine Flucht vor der tragischen Gefährdung des Menschen. Als ich einmal bei dem
deutschen Literarhistoriker Benno von Wiese über Eduard Mörike las: "Nicht weil er das
Tragische nicht gekannt hatte, ist er Idylliker, sondern weil es ihm nur zu vertraut war", da
wandte ich diese Beurteilung wohl zu Recht auch auf Hebel an, denn erst wenn man bei ihm
alle scheinbare Idyllik durchschaut, erkennt man, wie sein Leben von der Kraft des Dennoch
und Trotzdem bestimmt war.

Diese Sicht vertiefte sich dann noch wesentlich, als ich bei meiner Beschäftigung mit Jacob
Burckhardt, dem großen Kulturhistoriker und Weisen aus Basel, schon im entsagenden Leben
und im Verzicht auf menschliches Glück soviel mit Hebel Verwandtes kennenlernte. Wenn
sich Burckhardt als fast Sechzigjähriger in einem Brief an seinen Freund Friedrich von Preen
nach Vorderalemannien sehnt und sich dabei eine Lieler Existenz bis zur "törichtesten
Deutlichkeit" ausmalt, dann ist dieser Wunsch nach Idylle auch nur der Versuch, einem
einsamen und tragisch gefährdeten Leben zu entfliehen. Aus einer ähnlichen Grundstimmung
entsprang wohl auch Hebels Sehnsucht nach dem Oberland, die in Karlsruhe zur
Entstehung der "Alemannischen Gedichte" geführt hat.

So reifte in mir durch die Beschäftigung mit Hebel und den anderen deutschsprachigen
Realisten ein neues Landschafts- und Heimatgefühl, das mit Idylle nichts zu tun hat, sondern
die Heimat vor allem als Zuflucht vor tragischer Bedrohung und Vereinsamung sieht.

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