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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
54.1992, Heft 2.1992
Seite: 183
(PDF, 34 MB)
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vorangegangen, und es war ein denkwürdiger Tag. heute vor 16 Jahren, als er den Hebelpreis
erhielt: seine Rede war damals für uns ein Manifest der neuen engagierten Dialektpoesie, den
Preis empfanden wir als Anerkennung dieser Renaissance. Und acht Jahre später: Claude
Vigee. Ich stand damals schon vor Ihnen, ich durfte die Laudatio zu Ehren von Claude Vigee
halten, seine kreative Treue zur Sprache des Ursprungs würdigen, sein unanfechtbares,
unmißverständliches Beispiel. Heute fühle ich mich wiederum an dieser Stelle zu einer
Rück- und Neubesinnung verpflichtet.

Seit den 70er Jahren ist mit einer Reihe von Dichtern. Liedermachern und Militanten eine
"elsässische Bewegung" aufgetreten, die nicht rückwärts blickt (es gibt für uns kein Modell
in der Vergangenheit), sich vom vergifteten "Volkstums"-Gedanken ausdrücklich und
entschieden abgekehrt hat. auch kein "AJemannentum" predigt, nicht auf Gewalt basiert,
sondern bedacht ist auf Verwurzelung und Weltoffenheit, genauer: Weltoffenheit durch
Verwurzelung, auf Emanzipation. Mündigwerden. Aufklärung durch eine elsässische Pädagogik
, wie sie Andre Weckmann forderte ("Unsere Revolution, das ist die Pädagogik"),
womit entscheidend das Schulproblem angegangen wird. Die seit den 80er Jahren zu
verzeichnende elsässische Wende - Enttabuisierung der Mundart, "langue et culture regionales
" in der Schule. Förderung des Deutschunterrichts - läßt sich nicht ohne diese Bewegung
erklären. Haben wir dabei den "aufhaltsamen" Rückgang der Mundart verhindern können?
Die Zahlen sind bekannt, erschrecken uns neuerdings: noch etwa 70% der Erwachsenen,
doch kaum 20% der Schulkinder können anscheinend noch mehr oder weniger Elsässer-
deutsch. sehr unterschiedlich je nach Stadt und Land, und ebenso bekannt ist die Einwirkung
sozialer und berufsbezogener Unterschiede. Die Experten errechnen mühelos "la fm du
dialecte", und das betrifft uns alle, bedeutet für uns am Rhein: die Grenze wächstl sie wächst
mit den Kindern im Elsaß! Der Rhein ist immer weniger eine politische und ökonomische
Grenze, er wird immer mehr zur sprachlichen Grenze. Dieser sozialen Abwertung der
Mundart haben wir jedenfalls die poetische Aufw ertung entgegengesetzt. Wenn die Mundart
nicht mehr "Realitäts"-Sprache ist. soll sie "Lust' -Sprache sein (ich denke dabei an die
Freudsche Unterscheidung von "Realitäts"- und "Lustprinzip"), "langue deplaisir" habe ich sie
genannt, und damit Sprache unserer Poesie (die Poesie entspricht dem "Lustprinzip"). Man
möge dies nicht als L'art pour l'art-Prinzip auffassen, es geht um eine Kunst zur Rettung der
Sprache, den Luxus des rein Schöngeistigen können wir uns im Elsaß nicht leisten, auch das
Ästhetische wird in der bedrohten Sprachsituation zum Politikum. Dialektliteratur im Elsaß:
Literatur auf sprachlichem Trümmerfeld. Aber sie blüht immer noch. Mr sin allawil noch do.

Zugleich haben wir die Grenzen überwunden. Die mißverständliche "Alemannische Internationale
" der frühen 70er Jahre - im Zeichen der ökologischen Solidaritätskundgebungen am
Rhein, mit den Treffen der Dichter. Liedermacher und Militanten im "Freundschaftshaus" -
mußte wohl eine zeitgebundene "Idee" bleiben (präzise Ziele wurden erreicht, jedenfalls ist
Wyhl nicht gebaut worden). Es gab dann z.B. die Reihe "Neue alemannische Mundartdichtung"
im einsatzbereiten Kehler Mörstadt-Verlag (herausgegeben von meinem lieben Freund Raymond
Matzen, den ich ebenfalls dankbar nennen möchte); es gibt immer noch als literarisches
Forum die alemannische Zeitschrift "Allmende"; wir treffen uns immer wieder von Basel bis
nach Karlsruhe (und zum Glück noch weiter) zu gemeinsamen Lesungen und Veranstaltungen.
In diesen Zusammenhängen darf ich die wesentliche Funktion des Hebelpreises hervorheben,
der über die Staatsgrenzen hinausgreift, die Einheit des alemannischen Literaturraums anerkennt
. Es ist für unsere Literatur lebensnotwendig, eine gemeinsame, größere Leserschaft zu
gewinnen, neue Zusammenhänge herbeizuführen im Sinne einer Entprovinzialisierung ohne
Verlust der eigenen Sprachverwurzelung. Die geographisch-ökonomische Realität setzt sich
grenzüberschreitend durch, aber sprachlich-kulturell bestehen weiterhin Hemmungen. Der
alemannische Literaturraum: weniger etwas Gegebenes als etwas, das noch zu gründen ist, und

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