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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
55.1993, Heft 2.1993
Seite: 81
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1993-02/0083
Sophie, die Gefundene

Einem regnerischen Tage folgte eine unheimliche NachL der Wind brauste durch die Luft, grelle
Blitze, auf Augenblicke helleuchtend, ließen dem geblendeten Auge die Dunkelheit noch finsterer
erscheinen, und prasselnd fiel der Regen auf die durchweichte Erde. Das dumpfe Anschlagen der
Wellen an den kolossalen Felsenbauten, die einst Tulla zur Uferbedeckung aufgeführt, ließen erkennen,
daß der Rhein, durch den anhaltenden Regen und das aus der Schweiz abfließende Schneew asser seinen
normalen Stand überschreitend, immer höher zu steigen im Begriffe war.

Für die Fischer w ar dies ein untrügliches Zeichen, daß es hohe Zeit sei. die Netze und
Fischergeräte in Sicherheit zu bringen, sollten diese nicht, dem Andränge der Fluten w eichend,
mit dem Strome fortgerissen werden.

Nach einer solchen Nacht sah man am frühen Morgen zw ei Fischer von Neuenburg durch
die trübgelben Gewässer in einem kleinen Nachen - w ie solche am Oberrhein unter dem Namen
"Seelenverkäufer" bekannt sind - mühsam durch die Strömung zwischen den Inseln und
Kiesgründen zu ihren Netzen und Reusen sich durcharbeiten. Nur noch wenige Stunden konnte
es anstehen, bis auch die letzte Spur dieser Inseln verschwunden und das ganze weite Bereich
des Stromes in eine ununterbrochene Wasserfläche, in einen wildbewegten See sich verw andelte.

Da. auf einem Kiesgrund, der kaum noch über die stürmisch andringenden Wellen hervorragte,
bemerkten sie eine regungslose liegende Gestalt.

Näher gekommen, glaubten sie die Leiche eines Weibes vor sich zu sehen - und wie es hier
Gebrauch ist. auch die Leichen dem Strome nicht zu überlassen und ihnen ein christliches
Begräbnis zu verschaffen - so waren sie rasch entschlossen, diesen Liebesdienst zu erfüllen.

Sie zogen den Nachen auf festen Grund und begaben sich zu der Leiche, aber zu ihrem
Erstaunen fanden sie keine solche, vielmehr ein lebendes, totenblasses, vom Frost geschütteltes
, in Lumpen und Fetzen kaum halb eingehülltes Mädchen, die Füße und Arme durch Stricke
fest zusammengeschnürt, mit jammerv ollem Blicke sie anstarren.

Die so hilflos Ausgesetzte war halb v on den sie umstrickenden Banden befreit, aber Arme
und Füße hatten beinahe jede Bewegungsfähigkeit verloren, und nur mit Mühe gelang es ihnen,
sie in den Nachen zu führen.

Auf keine der an sie gerichteten Fragen über ihren Namen und ihre Heimat gab sie eine
verständliche Antwort, und so wußten die beiden Männer sich nicht anders zu raten, als mit ihr
die Heimfahrt zu unternehmen.

Als sie, die Fremde mit ihren Armen unterstützend, das Hochgestade bei Neuenburg langsam
hinaufstiegen und einen Augenblick rastend zurückblickten, da w ar die Kiesbank, auf der sie
die Unbekannte gefunden, v erschw unden.

Nachmittags wurde sie mit einem Berichte des Bürgermeisters mir zugeführt.

Auf die Frage nach ihrem Namen, gab sie Antw ort: Sophie, aber jede weitere Nachfrage nach
ihrem Geschlechtsnamen, nach ihrer Heimat, nach den Umständen ihrer Aussetzung blieben
erfolglos; die Worte, die sie sprach, standen weder mit den Fragen noch unter sich im
Zusammenhang, und auch nicht ein Wort gab einen Anhaltspunkt, um über den rätselhaften
Vorgang Aufschluß zu erhalten.

In einem Zimmer des Amtsgefängnisses wurde sie längere Zeit verpflegt, von den Gerichtsärzten
wurde sie öfters besucht und beobachtet und schließlich das Gutachten dahin
abgegeben, daß sie wahnsinnig sei. womit meine Überzeugung übereinstimmte. War sie es aber
schon vor ihrer Aussetzung, oder wurde sie es erst in jener schauerlichen Nacht, dem
langsamen, sicheren Tode hilflos und rettungslos sich preisgegeben sehend? Diese Frage hat
die Untersuchung nicht aufgeklärt, alle Nachforschungen im Elsaß, in der Schweiz und in den
näheren und entfernteren Orten des rechten Rheinufers, die Bekanntmachungen in den
weitestv erbreiteten Zeitungen, alles blieb erfolglos.

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