http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1994-01/0183
J.M.R. Lenz in Hertingen
- Eine Betrachtung -
Heinrich Bücheler
Ist es Schlosser zu verdenken, daß er den kranken Lenz nicht länger in Emmendingen
haben wollte, neu verheiratet wie er gerade war, nach Cornelias Tod im
Juni 1777? Sigrid Damm sieht es richtig: Der Oberamtmann Johann Georg
Schlosser hat weit mehr für Lenz getan als alle anderen einstigen Freunde. Aber
nun drängte er immer entschiedener auf Lenzens Heimkehr nach Livland, schrieb
diesbezüglich an den Vater, "Gott" habe Jakob Michael Reinhold mit einer "harten
Krankheit" geschlagen. - Zu Beginn des Jahres 1779 indes setzte Schlosser noch
einmal seine Beziehungen ein: Im Markgräflerland, bei einem Arzt in Hertingen,
sollte ein letzter Therapie-Versuch an dem Kranken vor dessen Abreise gemacht
werden. Lenz ging dorthin im "Jänner", genau ein Jahr nach seiner Fußreise
"durchs Gebirg" nach Waldersbach. Ob wieder zu Fuß und allein? Oder in Begleitung
und im Wagen? Wir wissen nichts über diese Reise. Aber aus der Topographie
kennen wir den Reiseweg, sehen, daß Lenz, um von Emmendingen im Breisgau
das Dorf Hertingen im Markgräflerland zu erreichen, nicht "durchs Gebirg"
mußte, sondern am Gebirg' entlang, durch die Freiburger Bucht, den "schönsten
Turm der Christenheit" lange zur Linken. Wie die Wetterlage gewesen, ob das
Münster und der Schwarzwald sichtbar oder im Nebel verhüllt, der Weg oberhalb
Freiburgs an den Rebhängen vorbei verschneit oder schneefrei - es liegt kein
Bericht vor, und wir wissen nichts. Lenz muß dann die Poststation Müllheim
passiert haben - eine Stätte des Bacchus wie der Ort dahinter, zu Füßen einer
Burgruine, in deren Nähe schon vor 1900 Jahren die Römer badeten. Hat er an der
Post den Wegweiser zur alten Reichsstadt Neuenburg am Rhein gesehen, nur zwei
Kilometer entfernt im Sonnenuntergang gelegen? Dort war der Herzog Bernhard
von Sachsen-Weimar verstorben, im Juli 1639, der Condottiere des Protestantismus
, erst 35jährig. aber schon einer der größten Feldherren im Dreißigjährigen
Krieg. Lenz hatte im Herbst 1776 an der Biographie dieses berühmtesten Vorfahren
von Herzog Karl August gearbeitet, das Projekt aber aufgeben müssen, als er
aus Weimar verwiesen wurde. - Ob er an der Müllheimer Post wußte, wie nahe er
dem Hauptquartier und Sterbeort des Weimarer Helden jetzt war und daß Goethe,
der Freund, nunmehr die Biographie Bernhards schreiben wollte?
Dann schließlich Hertingen. Der Ort markgräflich wie Weisweil und - nach dem
"cuius regio, eius religio" - evangelisch wie Weisweil und Emmendingen. Aber
sonst vom Rheindorf Weisweil sehr verschieden: nicht der reißende Strom, sondern
sanfte Hügel und Hänge, Obstgärten. Reben und Wald. Doch mehr noch
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