http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1995-02/0038
lungen, volle Kinos und der schnelle Wiederaufbau der kulturellen Vereine, Chöre
und Orchester - all das erscheint uns mit dem historischen Abstand von 50 Jahren
wie ein Traumzustand. Wäre die Blüte dieses kulturellen Aufbruchs mit der Währungsreform
nicht so schnell verwelkt, es bliebe ein großes und nachhaltiges Erstaunen
; ein Erstaunen darüber, wie die Kunst als elementare Notwendigkeit des
Lebens begriffen wurde und jene Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfuhr,
nach der sich Kulturschaffende heute vielfach sehnen.
"Wir waren alle arm und verhungert, aber das verhaßte Regime war ausgebrannt
. Und wir alle brannten darauf, wieder ins freie, von einer bösen Weltanschauung
unbelastete Musizieren zu kommen. Es war eine herrliche Zeit, trotz -
oder vielleicht auch wegen des äußerlichen Elends". So Professor Wolf gang
Fernow, der spätere Leiter des Lörracher Motettenchores.
Vor einem Jahr beging der Sänger der amerikanischen Kultband Nirwana, Curt
Cobain, mit einem Kopfschuß Selbstmord. Unter dem Titel "Ich bin alt und gelangweilt
" schrieb der Schweizer Journalist Martin Kilian dem erst 28jährigen
Rockstar einen Nachruf. Dort heißt es: "Verwirrt und konfus schlappen die Youngsters
durch die in Stämme zerfallende Welt, apathisch und verbogen vom Fernsehen
starren sie auf eine Gesellschaft, die ihnen weniger bezahlen wird als ihren
Vätern. Sie kommen aus geschiedenen Familien, müssen sich von einer Armee
idiotischer Psycholaberer sagen lassen, an 'niedrigem' Selbstwertgefühl zu leiden,
und sind die Kids von Eltern, denen ihr Mangel an Drive höchst verdächtig ist.
Als ob sie damit nicht genug geschlagen wären, mußten diese armen Teufel sich
zudem mit den letzten Zuckungen einer müde gewordenen Rock- und Popmusik
begnügen, der zuzuhören Pein verursacht".
Diese beiden Zitate, das über die Gründung des Chores 1946 und das aus dem
Nachruf auf einen Popstar von 1994, markieren Beginn und Ende der Nachkriegszeit
. Begeisterung und Enttäuschung, hoffnungsvoller Aufbruch mit nichts als der
eigenen Kraft am einen Pol und eine verzweifelte Hoffnung auf Massenidole, die
diese Verantwortung erdrückt, am anderen. Die Begeisterung über Befreiung und
Neubeginn am Anfang des Wirtschaftswunders und eine vollständige Desillusio-
nierung über dessen Versprechungen, ein 'Sinn-Vakuum' am Ende. Je mehr Güter
wir anhäufen, je größer der Wohlstand, desto lauter wird der Zweifel; der Zweifel
darüber, wie wichtig eigentlich Reichtum, Wohlstand und Bürgerlichkeit sind für
das menschliche Glück.
Vom jüdischen Schriftsteller Joseph Roth stammt der Satz, der uns, als jüngere
Kulturschaffende, die wir die Zeit nach dem Krieg nicht am eigenen Leib erlebten,
bei der Vorbereitung dieses Kulturprojektes immer wieder beschäftigte. Sie finden
diesen Satz auf einer Wandtafel in der Ausstellung, und obwohl er schon in den
20 er Jahren geschrieben wurde, können Sie ihn auch als Kommentar von uns
Nachgeborenen verstehen: "Es gibt eine Not, der man tausend Erkenntnisse und
das Leben verdankt, und einen Reichtum, der tod macht, tod und schön, tod und
zauberhaft, tod und glücklich und vollkommen".
Dieser Satz hat etwas verstörend Aufwühlendes. Er beleuchtet die Schattenseite
des Wirtschaftswunders. Doch Vorsicht ist angebracht; seine Botschaft hat etwas
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