http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1995-02/0053
Mörikes "Gebet" entsprach der Grundhaltung des Schriftstellers, der wie kaum
ein zweiter - vor allem in Südbaden - die deutsche Literatur der Nachkriegszeit
prägte: Reinhold Schneider9'. 1903 wurde er in Baden-Baden geboren, katholisch
erzogen, seit 1933 war er freier Schriftsteller, erhielt aber im Dritten Reich
Schreibverbot, veröffentlichte illegal und wurde kurz vor Kriegsende wegen
Hochverrats angeklagt. 1946 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg
(BZ, 2.8.46). 1958 starb er als Träger zahlreicher Literaturpreise in Freiburg101
. So verwundert es uns heute nicht, daß es Reinhold Schneider war, der am
1. Februar 1946 mit seinem Artikel "Mit neuen Augen - vor der wiedergeschenkten
Bibliothek" die Kulturberichte und -aufsätze der Badischen Zeitung eröffnete11
'. Im Gegensatz zu Döblin benannte Schneider die 12-jährige Epoche des Nationalsozialismus
nicht politisch-konkret, sondern umschrieb sie "naturhaft-mythisch
" als Zeit "furchtbarer Gewalten" und "Feuersbrünste", in der die "lärmende
Stimme der Macht" die Menschen von den ewigen Dingen fernhielt. Lesen als
"eines der großen Geschenke dieser letzten Zeit", Lesen als "herrliche Einsamkeit
lautloser Nächte, da die Geister der Zeiten in ihrer stillen Macht hervortreten" -
das war Schneiders Hoffnung und "Antwort" auf die totalitäre Propagandakultur
bzw. - diktatur in der Zeit des Dritten Reiches. In Schneiders Bibliothek finden
wir vor allem die griechischen Tragiker. Vergil, Shakespeare. Augustinus, Grill-
parzer und Eichendorff. Literatur als Kunstwerk war für Schneider "Einbruch der
Wahrheit in unser Leben, eine eherne Forderung. Indem es die Himmelsmacht
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