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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
57.1995, Heft 2.1995
Seite: 53
(PDF, 32 MB)
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stalt" des "gereiften Mannes" Goethe als Maßstab guter Literatur gewählt. Für
Experimente hatte der Rezensent noch wenig Verständnis. Stilisierte Bühnenbilder
und sich überschneidende Spielräume wurden weniger künstlerisch als vielmehr
mit den materiellen Schwierigkeiten und der räumlichen Enge des damaligen
Theaters erklärt.

Auf einen anderen Aspekt von Goethes "Faust" ging Peter Härtling in seinem
Buch "Der Wanderer" von 1988 ein161. Dort verweist er auf eine Stelle in "Faust
II", die für unser Thema von Bedeutung ist: "Zu meinem 16. Geburtstag (also
1949. Anm.) schenkte mir meine Großmutter Goethes Faust. Ich las ihn, wie ich
zu jener Zeit alle Bücher las: Ohne viel Kenntnis, heißhungrig und traumbeladen.
(...) Eine einzige Passage zeichnete ich aus durch ein Ausrufezeichen. Sie blieb
mir so wichtig wie dem lesewütigen Jungen von damals. Es steht, kaum mehr
sichtbar auf dem vergilbten Papier, im zweiten Teil neben der Überschrift '5. Akt,
Offene Gegend'. Da tritt er auf, mein Wanderer. Er erinnert sich, wie ihn einst
Philemon und Baucis aus der wütenden See gerettet haben, doch jetzt kann er
noch nicht erkennen, daß er sich auf einer Insel befindet, die zum Untergang
verurteilt ist. (...) Er wird von Baucis empfangen, der Greisin. Goethe sagt von ihr:
'Mütterchen, sehr alt'. Sie nimmt ihn mit einem Wort auf. das jedes Woher und
Wohin vergessen macht, neu und unvergleichbar. Sie sagt: 'Lieber Kömmling!'
und bringt mit diesem Goetheschen Wortfund den unerwarteten Gast als Kind zur
Welt, empfängt ihn als Sohn. Baucis singt ein Lied, das nicht nur Philemon
schützt, sondern zugleich den Wanderer heimholt." 171

Härtlings Bemerkungen zum Motiv des Wanderns in Goethes "Faust" ermöglichen
uns die Überleitung zu folgender Beobachtung: Das Motiv des Wanderns
erscheint in der unmittelbaren Nachkriegsliteratur in Deutschland von zentraler
Bedeutung. Unterschiedlichste Inhalte wurden mit dem Wort verknüpft.

In ihrer Betrachtung über die "Wandlungen des Erlebens" (BZ. 8.2.46) verwendete
Ingeborg Tetzlaff das Wandermotiv, um Entwicklungsstufen des Menschen
zu beschreiben: "Die Kühle eines Wandermorgens entsprach der Frische unseres
eigenen Aufbruchs, die strenge Kälte des Bades im Meer oder Gebirgsbach unserem
Willen zu kraftvoller Leistung." In späteren und reiferen Jahren konnte man
"still auf einem Stein an der Berghalde oder dem Ufer des längst vertrauten Wassers
sitzen und ruhig den gewohnten Bildern nachsinnen. (...) Der Weg, den wir
viele Male gegangen sind, gehört uns auf geheimnisvolle Weise an , nicht anders
als unser Kleid oder Schuh, die Landschaft, in der wir Unvergeßliches erlebten,
wird die unsere für immer." Und am Ende der Lebens Wanderung hat sich die
Wahrnehmungsweise des Menschen ein letztes Mal gewandelt: "Haben wir bis
dahin jede Stufe unseres Daseins voll durchlebt, sind wir reifend weitergeschritten
, wenn die Zeit dazu war, so wird uns das Sinken der Nacht wunschlos und
müde finden." "Wandern" und "sich wandeln" wird hier - etymologisch durchaus
zutreffend - miteinander in Beziehung gesetzt und dabei eine alte Kirchenliedtradition
aufgenommen, wie sie ebenfalls bis ins 20. Jahrhundert fortgeführt wurde:
"Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwer-

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